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Die Kunst des Loslassens in einer rastlosen Welt

Christin Prizelius | 05.09.2025 | Interview mit Nicole Stern | © Nicole Stern

Wenn die Welt im Hochgeschwindigkeitsmodus pulsiert, lädt Nicole Stern – Expertin für Bewusstseinsschulung, Autorin und autorisierte buddhistische Meditationslehrerin dazu ein, sich mit sich selbst zu verbinden, still zu werden und zur Ruhe zu kommen. Seit vielen Jahren leitet sie Schweige- und Meditationsretreats und begleitet Menschen dabei, die Quellen des Glücks und der Gelassenheit in sich zu entdecken. Ihre bewegte Geschichte führte sie zu ihrem heutigen Schwerpunkt — Deep Rest, auch Tiefes Ruhen genannt.

Diese anstrengungslose Form der Achtsamkeitsmeditation ist auch für energetisch oder körperlich erschöpfte Menschen leicht zugänglich und kann in eine tiefe Regeneration und Selbst-Erkenntnis führen. Heute bildet Nicole Stern Deep Rest Meditationslehrerinnen und ‑lehrer aus und zeigt, wie wir Loslassen, Zulassen und Seinlassen mit Leichtigkeit lernen können. Sie plädiert für eine „Ruhe-Revolution“, die für unsere Gesellschaft so wichtig wäre.

Warum ist gerade jetzt, inmitten von Krisen und Reizüberflutung, der Zugang zu innerer Ruhe so entscheidend?

Unsere Zeit ist so komplex, dass sogar die WHO (Weltgesundheitsorganisation) Ruhe als einen Schlüssel zur mentalen Gesundheit nennt. Ohne regelmäßige Pausen rutscht unser Nervensystem in Dauerstress, bis Erschöpfung zur neuen Normalität wird. Bewusstes Ruhen stoppt diesen Kreislauf, stellt Gleichgewicht her und schenkt den klaren Kopf, den wir für kluge Entscheidungen brauchen.

Ruhe hilft nicht nur gegen Erschöpfung und fördert Heilungsprozesse, sie steigert Leistungsfähigkeit und Kreativität.”

Ruhe gilt oft als Luxus oder Schwäche. Wie lernen wir, Ruhen als aktive Kraftquelle zu begreifen?

Ruhen ist gelebte Selbstfürsorge — keineswegs Passivität. Es wirkt wie ein innerer Reset-Knopf, der Körper, Gefühle und Geist in echte Regeneration versetzt. Wer das erlebt, merkt schnell: Ruhe hilft nicht nur gegen Erschöpfung und fördert Heilungsprozesse, sie steigert Leistungsfähigkeit und Kreativität. Eine scheinbar „unproduktive“ Ruhe-Pause erweist sich als produktivste Investition in unsere Energie und Lebensqualität.

Oft ist die Sehnsucht nach Ruhe groß, aber die innere Erlaubnis fehlt. Welche ersten Schritte empfiehlst du Menschen, die noch nie bewusst geruht haben?

Der erste Schritt ist ein inneres Ja zur mehr Ruhe. Wichtig ist, sich bewusst zu machen: Ruhen ist eine bewusste Handlung, Ruhe der Zustand, der daraus entsteht. Oftmals spüren wir eine große Sehnsucht nach mehr Ruhe, wissen aber nicht oder haben verlernt, wie Ruhen geht. Zusätzlich können alte, aber aktive Glaubenssätze wie „Ich darf nicht faul sein“ noch stark wirken. Doch, wir können diese Glaubensätze Schritt für Schritt verändern. Als kleine Anregung empfehle ich eine effektive Übung: Lege dich täglich für fünf Minuten hin, spüre die Unterlage, spüre deinem Atem und sage dir: „Ich darf jetzt ruhen.“ Oder „Ich habe es verdient mir Ruhe zu gönnen.“ Eine Audio-Anleitung ist sehr unterstützend diese neue Routine zu festigen. So wird Ruhen zu unserer aktiven Entscheidung, der Körper darf zur Ruhe kommen. Die Erlaubnis uns selbst Ruhe gönnen und uns dabei okay zu fühlen, kann geübt werden. Schon nach wenigen Tagen wirst du bemerken, wie dein Nervensystem schneller in den Ruhe-Modus umstellt und wie einfach und wohltuend das ist.

Bild: © Nicole Stern

Was verstehst du unter „Tiefem Ruhen“ – und wieso hat „Loslassen“ so eine große Bedeutung?

Tiefes Ruhen – oder Deep Rest – stammt aus der Achtsamkeitsmeditation und findet immer mehr begeisterte Übende. Deep Rest ist anstrengungslos, strukturiert und wird im Liegen ausgeführt. Die Übung lässt sich leicht in den Alltag integrieren, etwa morgens vor dem Aufstehen oder abends vor dem Schlafengehen. Im Liegen werden wir oft müde, was eine natürliche Form des Loslassens ist. Mit entsprechender Anleitung lernen wir vom Körper, wie Loslassen funktioniert. Zuerst richten wir die Aufmerksamkeit auf den Körper, lassen sanft Verspannungen los und finden in einen sicheren, geerdeten Zustand. Dann wenden wir uns den vorhandenen Gefühlen zu, ohne weiter gegen sie anzukämpfen. Oft ist der ständige Strom von Gedanken eine Herausforderung. Mit Deep Rest erleben wir, wie wir unsere Gedanken mühelos beruhigen können.


Weil uns Deep Rest an den Rand des Einschlafens führt, ist eine geführte Anleitung hilfreich. Sogar Wegnicken oder Dösen ist willkommen – es gehört zum Prozess des Loslassens. In diesem besonderen Übergang vom Wachen ins Schlummern kann eine feine, zutiefst gelassene Bewusstheit auftauchen. Deep Rest geht weit über einfache Entspannung hinaus. Die Praxis kann bei herausfordernden Lebensthemen unterstützen, wo die Fähigkeit Loszulassen notwendig wird, z.B. bei Krankheit, Trennungen, unerfüllten Wünschen, Ängsten oder der Akzeptanz des Lebensendes. Durch Deep Rest lernen wir, sanfter und mitfühlender mit uns selbst umzugehen – ideal für alle, die inneren Frieden und tiefe Erholung suchen.

Bild: © Nicole Stern

Du betonst Sanftheit. Weshalb ist weiches Zulassen wirkungsvoller als harte Disziplin beim Finden von Ruhe?

Sanftheit ist aktive Selbstfürsorge. Sie löst inneren Widerstand, Härte spannt uns nur weiter an. Wenn Gefühle einen freundlichen Raum in uns bekommen, findet unser Organismus tiefer in Erholung — dort beginnt echte Transformation. Deep Rest kann einen „Durchbruch in die Sanftheit“ und damit zu innerem Frieden schenken: Ruhe für den Körper, liebevolle Annahme der Gefühle, tiefe Verbundenheit mit dem Sein. Diese einfache, aber wirkungsvolle Kombination kann lebensverändernd wirken. Ich erlebe es eindrucksvoll bei mir selbst und bei Tausenden von Deep Rest Teilnehmerinnen und ‑teilnehmern. Wer tief ruht, gewinnt Mitgefühl, Klarheit und Entscheidungskraft – Qualitäten, die wir dringend brauchen, um eine friedlichere Kultur zu gestalten. Darum widme ich diesem Weg mein Herz und mein Wirken.

„Tiefes Ruhen nährt Frieden, Kreativität und Mitgefühl; genau diese Qualitäten braucht unsere Zukunft. Eine Gesellschaft, die Ruhe achtet, handelt weiser und menschlicher. Damit das gelingt, heilen wir den Glauben, nur über Leistung wertvoll zu sein.”

Du sagst, Tiefes Ruhen habe gesellschaftliches Potenzial. Wie kann eine persönliche Praxis kollektiven Wandel auslösen?

Ausgeruhte Menschen hören besser zu, reagieren gelassener und stecken andere mit ihrer Ruhe an. Familien werden harmonischer, Teams kreativer, Gemeinschaften friedlicher. Jede liegende Praxis webt einen Faden in ein stärkeres soziales Netz. Je mehr wir ruhen, desto mehr verankern wir Mitgefühl und Klarheit im öffentlichen Raum.

Welche Vision begleitet dich, wenn du an eine Kultur des tiefen Ruhens in zehn Jahren denkst?

Ich träume von einer „Ruhe-Revolution: In zehn Jahren gilt Ausgeruht-Sein als Dienst am Gemeinwohl – genauso selbstverständlich wie beruflicher Erfolg heute. Tiefes Ruhen nährt Frieden, Kreativität und Mitgefühl; genau diese Qualitäten braucht unsere Zukunft. Eine Gesellschaft, die Ruhe achtet, handelt weiser und menschlicher. Damit das gelingt, heilen wir den Glauben, nur über Leistung wertvoll zu sein. Jeder beginnt bei sich und erkennt, dass wahres Wohlbefinden mehr ist als äußere Erfolge. Man stellt Bewusstheit sowie mentale Gesundheit ins Zentrum einer gesunden Gesellschaft. Unternehmen, Schulen und Universitäten fördern Resilienz-Programme, Deep Rest Meditation und bewusste Pausen. So entsteht ein Klima, in dem Selbstfürsorge und innere Entwicklung hochgeschätzt werden. Wenn wir kollektiv ruhiger werden, öffnen sich Räume für Lösungen, die heute noch undenkbar scheinen.

Buchcover: © Stern Publishing, Affiliate — Link

Die Persönliche Motivation und Vision von Nicole Stern:

„Die Wurzeln meiner Praxis reichen bis in meine frühen Zwanziger: Der friedliche Abschied meiner an Krebs erkrankten Mutter berührte mich so tief, dass ich beschloss, selbst den inneren Frieden zu erforschen – ohne erst krank werden zu müssen. Dieses Erlebnis führte mich zum Psychologiestudium, ins Zen-Kloster und schließlich in jahrzehntelange Meditations- und Lehrpraxis. Der eigentliche Wendepunkt kam jedoch während eines Deep-Rest-Schweigeretreats: Im Liegen öffnete sich mir eine mühelose Sanftheit, die alte subtile Konzepte von Strenge ablöste und mein Leben neu ausrichtete – hin zu mehr Fürsorge und radikalen Sanftheit für mich, wie für andere.

Ich möchte an die transformierende Kraft des Bewusstseins erinnern und Deep Rest so vielen Menschen wie möglich zugänglich machen, überall dort, wo Erschöpfung nach echter Regeneration und damit nach einem Lebenswandel ruft. Tiefes Ruhen schenkt dem Nervensystem eine Pause, in der Loslassen, Zulassen und Seinlassen geschehen. Das senkt den Stresspegel, steigert Mitgefühl und schafft die innere Basis für Heilung — ganz gleich, ob in der onkologischen Tagesklinik, im Hospizzimmer, auf der Herz-Reha-Station, in der psycho- oder traumatherapeutischen Praxis oder bei allen Menschen, die unter Erschöpfung und Rastlosigkeit leiden.”

Nicole Stern Nicole Stern ist Expertin für Bewusstseinsschulung, buddhistische Meditationslehrerin und Autorin mehrerer Bücher, darunter „Das Muße-Prinzip” und „Tiefes Ruhen – sanftes Loslassen”. Sie setzt Impulse für einen Kulturwandel, indem sie Spiritualität mit gesellschaftlichem Bewusstsein verbindet. Ihr liegt es besonders am Herzen, an ein tiefes existenzielles Vertrauen, das eigene Potenzial und die Einsichtskraft zu erinnern, die ein freies und glückliches Dasein möglich machen. Sie lebt am Starnberger See.

Mehr unter: www.nicolestern.de, www.deep-rest-meditation.de und www.deep-rest-meditation.de/podcast

Bild: © Nicole Stern


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