Der Verein Stehaufmännchen Niederrhein e.V. wurde von zwei Familien gegründet, die sich im April 2020 in der Uni Klinik Köln kennenlernten. Ihre jeweils großen Jungs kämpften dort damals gegen den Krebs. Durch das gemeinsame Doppelzimmer kamen sie als Begleitpersonen schnell ins Gespräch. Automatisch unterstützte man sich durch bloße Anwesenheit und den gegenseitigen Austausch über Therapie, Heilungschancen, aber auch alltägliche Sachen. Nach dem Tod ihrer Jungs im Juli und November 2020 fehlten ihnen dann aber nicht nur ihre tapferen Kämpfer. Der Kontakt zu vielen Menschen, wie das Krankenhauspersonal, Physiotherapeuten und Taxifahrer, die sie während der Therapie regelmäßig und häufiger als ihre eigenen Familienglieder sahen, brach ab. Auch der Austausch mit anderen Eltern auf dem Stationsflur, im Spielzimmer oder der Tagesklinik, fand nicht mehr statt.
So kam es, dass die beiden Familien den Kontakt eigenständig weiter intensivierten. Durch das gemeinsame Schicksal fühlten sie sich verbunden und verabredeten sich häufiger. Da sie merkten, dass es ihnen sehr gut tat, kam ihnen bei einem gemeinsamen Treffen die Idee, einen Verein zu gründen, um somit auch anderen betroffenen Familien die Möglichkeit zum Austausch zu bieten. Sie wenden sich hierbei gezielt an Familien mit minderjährigen Geschwisterkindern, um gemeinsame Freizeitaktivitäten zu unternehmen. Diese Aktivitäten sollen Lichtblicke für die Familien sein und den Raum für ungezwungene Gespräche schaffen. Wir haben mit Katja und Lena gesprochen…
Liebe Katja und Lena, erst einmal danke für eure Zeit und die Bereitschaft, mit mir über euren Weg und den Verein zu sprechen. Ihr habt „Stehaufmännchen Niederrhein e.V.” für verwaiste Familien gegründet. Wie hat sich das entwickelt und wie hat alles angefangen?
Katja: Wir haben uns kennengelernt, als unsere beiden Jungs an Krebs erkrankt waren. Das war 2020 in der Klinik. Bei uns ging es da allerdings schon in die palliative Richtung. Dieser Austausch tat uns gut. Unsere beiden Jungs sind im Jahr 2020 verstorben, aber wir haben weiter den Kontakt gehalten, uns weiter getroffen und einfach gemerkt, wie gut uns dieser Austausch unter Betroffenen tut — und wie wichtig es ist. Auch über den Tod eines Kindes hinaus. Gleichzeitig haben wir uns aber auch immer wieder gefragt, warum es hier keine Anlaufstellen für uns gibt. Nach dem Tod eines Kindes wird man dann einfach alleine gelassen. Wir waren also auf der Suche, haben allerdings nichts gefunden und dann kurzerhand beschlossen, selber eine zu schaffen.
„Ich habe immer gedacht, dass wenn ich einen Menschen kenne, der das schon überlebt hat, ich das auch schaffen kann!”
Lena: Ben ist vier Monate vor unserem Jakob gestorben. Zu diesem Zeitpunkt war es bei uns noch nicht absehbar, dass es doch so schnell gehen würde. Insbesondere in der Zeit, wo wir dann wussten, dass es Jakob auch nicht schaffen wird, hat mir der Kontakt mit Katja unglaublich viel Halt gegeben. Ich habe immer gedacht, dass wenn ich einen Menschen kenne, der das schon überlebt hat, ich das auch schaffen kann. Und ich glaube, dass wenn man weiß, wie das sein kann, es auch gut ist, wenn man das an andere weitergeben kann. Wir haben dann mit unseren Männern gesprochen, selber so eine Anlaufstelle für Betroffene zu schaffen, es zunächst zwar noch belächelt, aber sind letztlich immer dran geblieben. Ein Jahr später hatten wir schließlich die Vereinsgründung. Es wurde bisher sehr gut angenommen und, was uns sehr freut, wächst seitdem immer weiter.
Ihr hattet in unserem Vorgespräch von dieser Versorgungslücke gesprochen, dass einen Krankenkassen und andere Kostenträger nach dem Tod des Kindes vollkommen alleine lassen. Diese palliative Begleitung ist auf einmal nicht mehr da. Und dann steht man da mit dem Verlust, der Trauer und diesem unfassbaren Schmerz. Ich hätte jetzt gedacht, dass es da mehr Auffangstellen gibt und einem geholfen werden kann…
Katja: Genau, das hat mir total gefehlt! Wir waren fünf Jahre lang ‑mit Unterbrechungen- immer wieder in der Klinik angebunden. Da gab es Sozialpädagogen, Physiotherapeuten etc., die auch nach Hause gekommen sind. Unsere beiden Jungs hatten ein Neuroblastom, einen Tumor, der von der Nebenniere ausgeht. In der Klinik hat man zwar die Kontakte zu anderen Familien und zum Pflegepersonal, die einen oft auffangen, aber dann stirbt das Kind und man ist nicht mehr in der Klinik, sieht die anderen Familien und auch das Pflegepersonal nicht mehr — und auch der Physiotherapeut kommt nicht mehr nach Hause, das Palliativteam kommt nicht mehr. Das Palliativteam hat uns vielleicht ein paar Wochen später noch einmal unangekündigt angerufen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte man andere Dinge zu regeln. Das war es dann. Man bekommt nichts an die Hand und das fehlte mir tatsächlich. Dabei tut der Austausch so gut, mich hat es in dieser Zeit wirklich gerettet! Zum einen hat man ja die Trauer um das eigene Kind, aber auch noch ein Geschwisterkind, um das man sich kümmern und für das man da sein muss und will. Man muss halt irgendwie weitermachen. Da gibt es viele Fragen, mit denen man überfordert ist. Das kranke Kind hat vorher so viel Raum eingenommen, ein Raum, der auf einmal leer war. Dann entsteht da automatisch die Frage, wie wir diese Normalität wieder hinkriegen.
Lena: Wo du das gerade mit der Versorgungslücke angesprochen hast, würde ich gerne noch ergänzen, dass ich wirklich sagen muss, dass die Palliativteams grundsätzlich eine richtig tolle Arbeit machen. Sie waren rund um die Uhr erreichbar. Wann immer man sich unsicher fühlte, bekam man einen Rat. Das war unheimlich wertvoll und gut, aber wenn das Kind dann verstorben ist, kommt ja aber erst einmal eine ganz andere Herausforderung auf die Familie zu. Alles bricht sozusagen weg und dafür gibt es keinen Ersatz. Es gibt keinen Seelsorger, der dann über die gleiche Stelle läuft und wo man dann auch 24/7 anrufen könnte, wenn man nachts wach liegt und nicht weiß, wie man durch den nächsten Tag kommen soll. Es ist wirklich schade, dass es dann von der Unterstützung her nicht weitergeht, sondern wirklich in dem Moment aufhört, wo man es selber vielleicht auch nochmal dringender brauchen würde, weil man vorher einfach funktioniert hat.
„Auch an diesen Punkt muss man kommen, dass man sagt: Ja, wir dürfen traurig sein und doch Spaß haben! Lena hat mal gesagt, unsere Jungs haben so um ihr Leben gekämpft, wir können unser Leben nicht wegschmeißen.”
Ihr habt euch dann für die Gründung des Vereins entschieden. Es wird über euch versucht, den Familien wieder schöne gemeinsame Zeiten zu ermöglichen und einen Begegnungsort zu schaffen. Was sind noch Ziele eures Vereins?
Katja: Zum einen muss ich vorweggreifen, dass wir wirklich nur zwei Ehepaare sind, die alle vier berufstätig sind. Wir haben alle noch weitere Kinder und machen das alles ehrenamtlich nebenbei. Deshalb ist es manchmal auch ein bisschen schwierig, Termine zu finden oder irgendwas auszumachen, aber ansonsten ist es unser Ziel, dass wir Treffen und Ausflüge für Familien und Geschwisterkinder planen. Wir haben gesagt, dass wir den Fokus auf Highlights legen möchten, wie Ausflüge in den Zoo, nach Schloss Dankern oder auf das, was man sich vielleicht in solchen Zeiten manchmal nicht traut. Auch an diesen Punkt muss man kommen, dass man sagt: Ja, wir dürfen traurig sein und doch Spaß haben! Lena hat mal gesagt, unsere Jungs haben so um ihr Leben gekämpft, wir können unser Leben nicht wegschmeißen. Und wenn man sieht, dass andere Familien das auch machen und einen schönen Tag verbringen, dann fällt einem selber das auch leichter.
Lena: Ja, das haben wir wirklich geschafft! Wir sind inzwischen elf Familien, also wir beide und dann noch neun andere Familien, die von uns begleitet werden. Wenn man uns sieht und nicht wüsste, was uns passiert ist, würde man wohl im Leben nicht darauf kommen, weil es bei uns lustig zugeht, lebendig und man total Spaß hat. Natürlich finden dazwischen aber auch mal ernsthafte Gespräche statt. Das ist eine Mischung, die man, glaube ich, schlecht nachvollziehen kann, wenn man nicht betroffen ist. Das kann man mit niemandem so locker mal eben nebenbei besprechen, aber da geht es eben. Bei uns untereinander ist es mittlerweile schön, das braucht aber auch einfach Zeit. Bei uns ist es ja nun auch schon länger her und mittlerweile schaffen wir es wirklich, wieder richtig schöne Erlebnisse miteinander zu haben.

Bild: © Stehaufmännchen Niederrhein e.V. — Verein für verwaiste Familien
Bei uns ist das Thema Tod ja leider gesellschaftlich ein bisschen tabuisiert, vor allem bei Kindern, so dass Menschen dadurch auch einfach überfordert sind…
Lena: Ja, da hast du recht. Es ist oft total schwer für die Menschen, damit umzugehen, wenn sie davon erfahren.
Katja: Ich habe das in Situationen, wenn man mich fragt, wie viele Kinder ich habe. Dann sage ich, der eine Sohn ist 7 Jahre alt und der andere wäre jetzt 13. Dann zeigt sich automatisch von der anderen Seite eine leichte Überforderung. Die Leute zeigen sich oft betroffen und entschuldigen sich. Das ist aber unser Alltag! Wir können inzwischen lockerer darüber reden und es gehört 24/7 zu unserem Leben. Man kann ja nicht nur traurig sein.
Durch organisierte Treffen und Freizeitaktivitäten möchtet ihr für die einzelnen Familien Lichtblicke schaffen, die auch für einen offenen Austausch genutzt werden können. Welche Rückmeldungen gibt es dazu? Welche Erfahrungen macht ihr in eurer täglichen Arbeit?
Katja: Schloss Dankern ist dafür mein Paradebeispiel. Das ist ein Ferienpark mit vielen Wohnhäusern und tollen Attraktionen für Familien, quasi wie Center Parks. Unsere Kinder sind zwischen zwei und elf Jahren und finden das super. Wir sagen Frühstück und Abendessen ist quasi Pflichtprogramm und ansonsten können die Familien gerne unternehmen, was sie möchten. Wir stellen immer einen Pavillon auf, wo man sich dann treffen kann, und abends ist das dann sehr unterschiedlich. Die einen reden über Fußball, die anderen zeigen sich vielleicht Fotos, wie sie gerade das Grab neu gestaltet haben. Es kommt natürlich auch mal vor, dass zwei Frauen zusammensitzen, die sich vielleicht gerade ein Tränchen wegwischen, und dann eine dazukommt und sagt: „Das kann ich heute nicht. Ich gehe lieber zu denen, die über Fußball reden.” Das ist dann aber völlig in Ordnung. Bisher ist da die Rückmeldung von allen Familien aber sehr gut. Auch für die Kinder und Jugendliche ist dieser Austausch wichtig — und zu sehen, dass sie nicht alleine sind.
Welche Herausforderungen begegnen euch in eurer täglichen Arbeit?
Lena: Ich glaube, wir vier sind gut im Gespräch miteinander. Wir hatten zuletzt eine Phase, wo sehr viel zu tun und zu organisieren war, vor allen Dingen im Zusammenhang mit Spendenveranstaltungen, wofür wir sehr dankbar sind. Zu Viert kommt man da aber doch schnell an die eigenen Grenzen dessen, was man selber leisten kann. Da sind wir schon gut miteinander und auch mit uns selbst in Kontakt und gucken, wann es zu viel wird und wann man vielleicht auch eine Organisation so umplanen muss, dass es für uns machbar bleibt. Bisher habe ich aber den Eindruck, dass wir es alles ganz gut hinbekommen haben.
Wie lernt man weiterzumachen und irgendwie mit dem Verlust seines Kindes zu leben?
Katja: Eigentlich gar nicht. Auch das klingt jetzt total doof, aber wir haben einfach funktioniert. Vor allem während der Therapie, denn der Mensch hat immer Hoffnung. Man funktioniert und hat schließlich keine Wahl. Ich fand es damals ganz schlimm. Viele sagten mir, ich sei so stark, dabei war ich es gar nicht. Man gibt sein Kind ja aber nicht auf und muss irgendwie weitermachen.
Lena: Ich wollte gerade dasselbe sagen. Man muss da etwas aushalten, was im Grunde unvorstellbar ist. Es gibt nur keine Option. Untereinander würde auch nie jemand von uns den Satz sagen: Du bist zu stark! Wir wissen einfach, dass es alternativlos ist. Wie sagte eine andere Mutter dazu mal: Aufgeben ist schlichtweg keine Option!

Bild: © Stehaufmännchen Niederrhein e.V. — Verein für verwaiste Familien
Wie kann man Mitglied bei euch im Verein werden? Wie kann man euch unterstützen?
Lena: Bei uns gibt es einmal die Möglichkeit, dass man als förderndes Mitglied dem Verein beitritt. Dann kann man einen gewissen Betrag pro Jahr oder pro Quartal festlegen, der per Lastschriftverfahren eingezogen wird. So leistet man sozusagen eine regelmäßige Unterstützung. Es ist aber auch möglich, uns mit einmaligen Geldzuwendungen zu unterstützen, so wie einige das zum Beispiel am Ende eines Jahres tun und zu Weihnachten spenden. Hierfür kann man entweder etwas überweisen, per Paypal zahlen oder unseren Button auf der Homepage nutzen.
„Wir wünschen uns natürlich zunächst einmal, möglichst viele Menschen zu erreichen, die auch von diesem Schicksal betroffen sind. Und dann ist es mir persönlich noch ganz wichtig, anderen Mut zu machen und zu erkennen: Ja, man kann das überleben — auch wenn man sich das vielleicht im ersten Moment überhaupt nicht vorstellen kann.”
Was plant ihr in Zukunft? Welche Botschaft habt ihr an die Welt?
Lena: Wir wünschen uns natürlich zunächst einmal, möglichst viele Menschen zu erreichen, die auch von diesem Schicksal betroffen sind. Und dann ist es mir persönlich noch ganz wichtig, anderen Mut zu machen und zu erkennen: Ja, man kann das überleben — auch wenn man sich das vielleicht im ersten Moment überhaupt nicht vorstellen kann. Es ist erstaunlich und beeindruckend zu erkennen, was mir durch unsere Vereinsarbeit mit so vielen Familien auch selber nochmal bewusster geworden ist, was wir nämlich für eine Stärke tatsächlich in uns tragen — auch wenn man sich nicht immer stark fühlt. Es ist unfassbar, wie Menschen überhaupt in der Lage sind, so einen Verlust zu überleben und dann auch noch so damit umzugehen, wie wir das teilweise alle gemeinsam mit diesen elf Familien tun. Hätte man mir das noch vor einigen Jahren erzählt, hätte ich diesen Menschen für verrückt erklärt und gesagt: Das geht nicht, das ist unmöglich. Das ist so eine Ermutigung, die ich gerne mitgeben würde. Wir alle wissen nicht, was uns noch so bevorsteht, aber man kann wirklich alles irgendwie schaffen. Ich glaube, auch wenn das zunächst unvorstellbar erscheint, es gibt immer irgendeinen Weg.
Katja: Genau. Und vielleicht auch, dass es ein bisschen weniger Tabuthema wird. Gott sei Dank ist es ja nicht die Regel, aber passiert doch immer wieder.
Lena: Und was ich auch noch ergänzen möchte, ist, dass wir vielleicht auch einfach von der Gesellschaft mehr eine Art Erlaubnis dafür bekommen, einen Raum zu finden, für die Gespräche über unsere verstorbenen Kinder. Dass jeder Mensch über sein Kind erzählen darf und es dabei das Normalste von der Welt ist. Manchmal wird es verwaisten Eltern schon schwer gemacht, nicht unbedingt, weil jemand etwas Bestimmtes sagt, sondern weil man eher an den nonverbalen Reaktionen merkt, dass Menschen es überhaupt nicht gewohnt sind, sich über Trauer, Tod, Verlust, Angst oder andere schmerzvolle Dinge so intensiv auszutauschen. Ich würde mir wünschen, dass man uns gegenüber etwas unbefangener reagieren würde und auch nicht so viel Angst hätte, hier in die Fragestellung und in den Austausch zu gehen…
Das ganze Interview mit Katja und Lena findest du HIER bei uns im Podcast (Folge #55)
Videocredit: © Stehaufmännchen Niederrhein e.V. — Verein für verwaiste Familien