Bei Leah M. aus Xanten wurde bereits im Grundschulalter Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Heute arbeitet sie als Erzieherin in einem Kinderheim und studiert zusätzlich noch „Soziale Arbeit”. Nach vielen verschiedenen Behandlungen und einer schwer verlaufenden MS, hat sie mittlerweile eine für sich passende Therapie gefunden und möchte für Aufklärung sorgen. Sie sagt: „Weil ich eben noch so jung war, konnte ich die Diagnose zunächst gar nicht begreifen und wusste nicht, was das für mich und mein Leben bedeutet. Ich habe dann schnell gemerkt, welche Auswirkungen das auf mich hat. Ich war sehr viel im Krankenhaus und dafür seltener in der Schule, was meine Mitschüler nicht verstanden haben. Da ich so viele Dinge nicht machen konnte, die für andere in meinem Alter normal waren und keine Behandlung so richtig angeschlagen hat, bin ich als Teenager in eine depressive Phase gerutscht. Ungefähr mit 15 wurde das dann langsam besser.” Zum Welt-MS-Tag nimmt sie uns mit auf ihren Weg und macht Hoffnung.
Liebe Leah, erinnerst du noch deine ersten Gedanken und Gefühle damals nach der Diagnose? Wie macht man dann weiter?
Ja, ich erinnere mich gut. Ich war zehn, lag im Krankenhausbett zwischen meinen Eltern und hab vor allem eins gespürt, die Angst in ihren Gesichtern. Ich wusste noch nicht, was MS wirklich bedeutet. Ich hab nicht an die Zukunft gedacht, ich war einfach in diesem einen Moment, verwirrt, überfordert, still. Ich denke es gibt nicht den einen Weg um weiterzumachen. Man wächst rein. In neue Wörter, neue Ängste, neue Stärke. Nicht sofort, sondern Schritt für Schritt. Heute weiß ich, du musst nicht alles verstehen. Du darfst einfach erstmal fühlen. Und dann deinen eigenen Weg finden.
Was waren deine ersten Symptome und wie hast du gemerkt, das „etwas anders ist”?
Ich saß in meiner Grundschulklasse und schrieb in mein Heft. Als ich meinen Kopf nach vorn beugte, spürte ich plötzlich ein Kribbeln im Rücken – fast wie Vibrationen in der Wirbelsäule. Ein Gefühl, das ich noch nie zuvor erlebt hatte. Dann ging alles ziemlich schnell. In den nächsten Tagen kamen Lähmungserscheinungen im rechten Bein dazu und Taubheitsgefühle in den Extremitäten. Wir gingen zuerst zu einem Orthopäden. Als er uns direkt weiter in die Neurologie überwies, war mir zum ersten Mal klar, das ist nichts Alltägliches. Etwas stimmt nicht.
„Heute gehe ich ganz anders damit um. Ich teile meine Geschichte bewusst in meinem Beruf, im Bekanntenkreis und in der Aufklärungsarbeit. Nicht, weil ich Mitleid will, sondern weil ich Hoffnung geben will. An Menschen, die selbst betroffen sind – und an die, die sie begleiten.”
Wie ist die Krankheit bisher bei dir verlaufen und wie hast du die richtige Therapieform für dich gefunden? Fragt man sich nach dem „Warum ich”?!
Die Erkrankung war bei mir von Anfang an schwerwiegend. Ich geriet in eine Spirale von Schüben, nichts schien zu greifen – nicht einmal Kortison. Zeitweise war ich auf den Rollstuhl angewiesen. Die Ärzte waren ratlos, meine Eltern verzweifelt und ich rutschte in depressive Phasen. Ich stellte mir immer wieder die Schuldfrage: „Warum ich? Warum diese Krankheit? Warum nicht heilbar? Und wieso bin ich krank – und meine Zwillingsschwester nicht?“ (Nicht, weil ich es ihr gewünscht hätte. Nur – mir selbst eben auch nicht.). Es folgten Jahre der Suche. Ich nahm an Studien teil, bekam fast alles, was neu auf den Markt kam. Doch oft war es nicht wirksam oder mein Körper reagierte nicht gut. 2021 – nach vielen Rückschritten – fand ich endlich das Medikament, das für mich passt. Seitdem habe ich mehr Stabilität und neue Hoffnung.
Bist du in der Schule, im Bekannten- und Freundeskreis offen damit umgegangen? Was hat das für deinen Alltag damals und auch jetzt bisher bedeutet?
In den ersten zwei bis drei Jahren wollte ich niemandem davon erzählen. Ich hatte selbst Mühe, die Krankheit zu akzeptieren und wollte nicht, dass sie mein Leben bestimmt. In der Grundschule wurde es irgendwie „offen gemacht“, aber ich erinnere mich nur bruchstückhaft. Kinder in dem Alter konnten damit einfach nicht viel anfangen. Auf der weiterführenden Schule wurde ich dann von Lehrkräften dazu ermutigt, offen mit der Diagnose umzugehen wegen meiner vielen Fehlzeiten, dem Nachteilsausgleich, und weil ich am Sportunterricht teilweise nicht teilnehmen konnte. Meine Mitschüler reagierten unterschiedlich. Einige waren verständnisvoll – andere verunsichert. Manche machten sogar Witze oder dachten, ich sei ansteckend. Das hat mich damals tief verletzt. Heute würde ich keinem Kind von damals mehr böse sein. Aber ich weiß, wie sehr das an einem nagen kann. Heute gehe ich ganz anders damit um. Ich teile meine Geschichte bewusst in meinem Beruf, im Bekanntenkreis und in der Aufklärungsarbeit. Nicht, weil ich Mitleid will, sondern weil ich Hoffnung geben will. An Menschen, die selbst betroffen sind – und an die, die sie begleiten.
„Was mich trägt, ist meine Haltung. Ich bin grundsätzlich sehr positiv eingestellt und versuche, auch im Schlechten etwas Gutes zu finden. Das gibt mir Kraft. Ich glaube nicht, dass man immer stark sein muss. Aber ich glaube, dass man immer wieder aufstehen darf. Und das ist meine Stärke.”
Wie sorgst du gut für dich und schaffst es, immer neue Herausforderungen zu meistern?
Ich glaube, gute Selbstfürsorge beginnt damit, sich selbst ehrlich zuzuhören. Mein Körper gibt mir klare Signale und ich habe gelernt, sie früher wahrzunehmen. Im Prinzip mache ich nicht viel anders als andere. Ich versuche, mir nach meinen 24-Stunden-Diensten bewusst Ruhe zu gönnen, gehe mit den Hunden raus oder bleibe einfach mal in der Stille. Wenn es sein muss, lerne ich auch für die Uni, aber ich merke ziemlich genau, wann mein Körper nicht mehr kann. Ich würde lügen, wenn ich sage, meine Work-Life-Balance sei perfekt. Da ist definitiv noch Luft nach oben. Aber ich bin achtsamer geworden und das allein ist schon ein großer Schritt. Was mich trägt, ist meine Haltung. Ich bin grundsätzlich sehr positiv eingestellt und versuche, auch im Schlechten etwas Gutes zu finden. Das gibt mir Kraft. Ich glaube nicht, dass man immer stark sein muss. Aber ich glaube, dass man immer wieder aufstehen darf. Und das ist meine Stärke.
Man nennt MS die Krankheit mit 1000 Gesichtern. Wie ist es bei dir bisher verlaufen? Mit welchen Symptomen hast du zu kämpfen?
MS hat sich bei mir mit sehr klassischen Symptomen angekündigt, aber ihr Verlauf war alles andere als klassisch. Ich hatte früh starke Schübe, zum Teil mit Lähmungen, Taubheitsgefühlen und Koordinationsstörungen. Zwischendurch war ich sogar auf den Rollstuhl angewiesen. Im Laufe der Zeit kamen viele unterschiedliche Symptome dazu: Sehstörungen, Sprachstörungen, starke Erschöpfung (Fatigue), Konzentrationsprobleme, Muskelzuckungen und Missempfindungen. Eigentlich kann ich sagen, einen Großteil der typischen MS-Symptome habe ich im Laufe der Jahre erlebt. Was man selten direkt anspricht, aber was genauso dazugehört, sind die psychischen Auswirkungen, depressive Verstimmungen, emotionale Erschöpfung und manchmal auch eine gereizte Grundhaltung, wenn der innere Druck zu groß wird. Das alles gehört zur Realität. Nicht immer, aber immer wieder. Heute bin ich glücklicherweise stabiler aber MS begleitet mich weiter. Was man oft nicht sieht, ist die Unsichtbarkeit der Symptome und genau das ist das Herausfordernde. MS ist da, auch wenn man sie mir manchmal nicht ansieht. Ich habe lernen müssen, auch mir selbst zu glauben. Und Pausen nicht erst dann zu nehmen, wenn es gar nicht mehr geht.

Foto: © Pixabay
Wie planst du deine Zukunft? Welche Wünsche hast du?
Ich versuche, meine Zukunft realistisch, aber mit Hoffnung zu sehen. Ich weiß, dass MS unberechenbar sein kann, aber ich lasse mich davon nicht lähmen. Ich habe berufliche Ziele. Ich möchte mein Studium in „Sozialer Arbeit” erfolgreich beenden, Menschen unterstützen, die selbst durch schwere Zeiten gehen, und dabei auch meine Erfahrungen nutzen. Ein großer Wunsch von mir ist es, ein Buch zu schreiben über meinen Weg mit MS, über das, was oft unausgesprochen bleibt, aber so vielen Mut machen könnte. Auch privat habe ich klare Bilder vor Augen, eine eigene Familie, ein Zuhause mit Stabilität und Liebe, ein Leben mit Nähe, Vertrauen und echter Verbindung. Ich wünsche mir, dass ich mir selbst weiter treu bleibe, dass ich liebevoll mit meinen Grenzen umgehe und nicht vergesse, wie viel ich schon geschafft habe.
„Es wird Momente geben, in denen du die Kontrolle verlierst oder zweifelst aber genau in diesen Momenten brauchst du Mitgefühl für dich selbst Hoffnung ist kein naives Gefühl, sie ist eine bewusste Entscheidung. Jeden Tag neu. (…) Ich glaube nicht an ständiges Glücklichsein. Aber ich glaube an ehrliches Weitergehen. Und daran, dass auch schwere Wege Hoffnung in sich tragen.”
Was rätst du anderen Betroffenen und ihren Angehörigen, denn langfristig ist es ja schon etwas, was alle angeht…?
Mein wichtigster Rat ist: Nehmt euch gegenseitig ernst, mit allem, was da ist. Nicht nur das Sichtbare zählt. Auch das, was keiner sofort sieht, ist real. An Betroffene: Du musst nicht stark wirken, um stark zu sein. Dein Alltag ist oft viel mehr, als andere sehen können. Und gerade deshalb ist es wichtig, dich selbst nicht zu überfordern. Du darfst müde sein. Du darfst Pausen machen. Nicht, weil du aufgibst, sondern, weil du auf dich achtest. Es wird Momente geben, in denen du die Kontrolle verlierst oder zweifelst, aber genau in diesen Momenten brauchst du Mitgefühl für dich selbst. Hoffnung ist kein naives Gefühl, sie ist eine bewusste Entscheidung. Jeden Tag neu. Wenn du fällst, dann bleib nicht liegen, aber steh auch nicht auf, um allen zu beweisen, dass du kannst, steh auf, weil du dir selbst wichtig bist. An Angehörige: Auch ihr seid betroffen, emotional, manchmal sogar körperlich. Meine Familie hat mich oft gestützt, wenn ich es allein nicht konnte – sie haben meine Ängste mitgetragen, meine Stimmungsschwankungen ausgehalten und mit mir gehofft, gezweifelt, durchgehalten. Ich weiß, es ist schwer, etwas zu verstehen, das man nicht selbst erlebt. Aber manchmal hilft schon: Bleib da. Stell keine Diagnose, gib keine schnellen Tipps, zeig einfach, dass du siehst, was es kostet, das alles zu tragen. Eure Geduld, euer Mitfühlen, euer Dableiben, das macht einen Unterschied. MS verändert vieles, aber wie wir als Menschen miteinander umgehen, das bleibt unsere Verantwortung.
Was hast du in deinem Leben außerdem verändert, um zuversichtlich zu bleiben und dich trotz allem positiv auszurichten?
Ich übe mich darin, nicht immer zu funktionieren. Es klappt nicht immer, aber ich merke: Es wird besser. Früher wollte ich überall stark sein, alles leisten, niemandem zur Last fallen. Heute versuche ich, mir selbst Raum zu geben, ehrlich zu mir zu sein und nicht alles wegzudrücken. Was mir hilft, ist das Bewusstsein für die kleinen Dinge. Ein Spaziergang, Stille, Musik oder einfach für einen Moment nichts müssen zu müssen. Ich achte darauf, was mir Energie gibt und wo ich sie verliere. Ich frage mich nicht mehr ständig: Warum ich? Sondern: Was kann ich aus dem, was ich erlebt habe, weitergeben? MS hat mir viel genommen, aber auch neue Wege gezeigt. Dinge wie Aufklärungsarbeit, Zuhören, Mut machen, sie geben mir das Gefühl, dass es Sinn ergibt, zu erzählen. Mein Umgang mit der MS ist der richtige für mich. Er muss nicht für alle passen, aber ich habe ihn für mich gefunden. Und ich darf ihn gehen, auf meine Art, in meinem Tempo. Ich glaube nicht an ständiges Glücklichsein. Aber ich glaube an ehrliches Weitergehen. Und daran, dass auch schwere Wege Hoffnung in sich tragen.
Wenn du eine Sache (auf der Welt) für dich und andere ändern könntest, was wäre das? Hast du für dich ein Lebensmotto bzw. persönliches Mantra?
Wenn ich eine Sache verändern könnte, dann wäre es der Blick auf Schwäche. Ich würde mir wünschen, dass Menschen nicht nach dem beurteilt werden, was sie leisten, sondern nach dem, was sie fühlen, tragen, überstehen und wie sie anderen begegnen, gerade in schwierigen Momenten. Ich würde gerne mehr Raum schaffen für echte Begegnungen. Mehr Mitgefühl statt Mitleid. Mehr Zuhören statt Urteilen. Mehr Mut, sich auch mit den unsichtbaren Kämpfen zu zeigen. Mein persönliches Mantra: Niemals aufgeben. Es ist einfach, aber tief. Denn es steht für alles, was mich durchgetragen hat, und für die Entscheidung, jeden Tag weiterzugehen, auch wenn es schwer ist. Nicht perfekt. Aber aufrecht und echt.

Leah ist 24 Jahre alt und arbeitet als Erzieherin in einem Kinderheim, zusätzlich studiert sie „Soziale Arbeit”. 2011 erhielt sie im Alter von zehn Jahren die Diagnose Multiple Sklerose. Nach vielen verschiedenen Behandlungen und einer schwer verlaufenden MS hat sie mittlerweile eine für sie passende Therapie gefunden und möchte für Aufklärung sorgen.
Sie sagt: „Früher habe ich stark daran gezweifelt, ob meine Zukunftspläne mit der MS umsetzbar sind. Heute vertraue ich darauf, dass es sich lohnt, immer weiterzumachen.“
Bild: © Leah M. Privat
Hinweis: Durch bestimmte thematische Beiträge, wie diesen, erfolgt keine medizinische Beratung. Nichts davon ist dazu bestimmt, Krankheiten zu diagnostizieren oder zu behandeln. Die Eigenverantwortlichkeit wird betont. Unsere Inhalte dienen lediglich der Weiterbildung, Information und Inspiration. Bei physischen oder psychischen Problemen sollte professionelle Unterstützung aufgesucht und in Anspruch genommen werden. |