Gemeinsam für eine bessere Welt

Mehr Offenheit und Bewusstsein.

Christin Prizelius | 22.09.25 | Interview mit Nicole Kultau | © Jenny Klestil Photography

Nicole Kultau erhielt mit 41 Jahren die Diagnose Brustkrebs und kurz darauf, nach einem Test auf Genmutation aus eigenem Antrieb, das positive Testergebnis für eine BRCA2-Genmutation. Ihre Behandlerinnen und Behandler sahen zum Zeitpunkt der Diagnose den Bedarf allerdings nicht. Die Diagnose BRCA2 erschütterte Nicole zutiefst und sie brauchte gut ein Jahr, um dieses Testergebnis psychisch zu verarbeiten — trotz allem betrachtet sie es als einen großen Vorteil, von dem Gen-Defekt zu wissen. Das Wissen bietet ihr im besten Fall die Möglichkeit, dem Krebs einen entscheidenden Schritt voraus zu sein. Am 22. September beginnt wieder die “BRCA Awareness Week” und läutet damit den Brustkrebsmonat Oktober ein.

Die “BRCA Awareness Week” ist eine Aktionswoche, die darauf abzielt, das Bewusstsein für die Bedeutung der BRCA1- und BRCA2-Gene zu schärfen. Diese Gene spielen eine wichtige Rolle bei der Reparatur von DNA-Schäden und schützen den Körper vor der Entstehung von Krebs. Der Hauptzweck dieser Woche ist es, unter anderem über Vorsorge, Früherkennung, Behandlungsmöglichkeiten und Information für Familien zu informieren. Dazu durften wir mit Nicole sprechen…

Liebe Nicole, vielen Dank für deine Zeit und deine Bereitschaft, mit mir und uns so offen zu sprechen. Du hast 2010 die Diagnose Brustkrebs erhalten und 2012 dann, nach einem Test auf Genmutation, auch das positive Testergebnis für eine BRCA2-Genmutation. Bitte nimm uns ein bisschen mit auf deinen Weg. Wie sind die letzten Jahre verlaufen und wie geht es dir heute?

Vielen Dank für euer Interesse an meiner Geschichte. Abgesehen von den Spätfolgen meiner Krebserkrankung und ihren Behandlungen, geht es mir heute mit allem gut. Ich lebe mein Leben mit allen Höhen und Tiefen und das mittlerweile seit 15 Jahren mit und nach dem Krebs. Das umfasst eine Zeitspanne, die ich mir 2010 oder 2012, kaum habe vorstellen können. Denn eine Krebsdiagnose zu erhalten, bedeutet eine Zäsur, die das Leben in ein „Davor“ und „Danach“ spaltet.

Wie bist du damals mit der Diagnose BRCA2 umgegangen? Bereust du es, diesen Test gemacht zu haben oder überwiegen die Vorteile? Und was rätst du anderen, die in einer gleichen oder ähnlichen Situation stehen?

Die Diagnose BRCA2 erhielt ich zu einem Zeitpunkt, als mein erster und letzter Gedanke eines Tages nicht mehr der Tatsache galt, dass ich an Brustkrebs erkrankt war. Ich konnte endlich wieder freier atmen, schaute mit neuer Zuversicht nach vorne und dann – Bämm! – folgte die erneute Diagnose. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich diese mental verarbeiten konnte. Denn von solch einer Diagnose hängen weitere Entscheidungen in Bezug auf Früherkennung oder Präventionsmaßnahmen ab. Und vor allem: Wie erzähle ich es den Menschen in meiner Familie, die ja ebenfalls Genträger oder Genträgerinnen sein könnten? Könnte auch mein Sohn Träger sein und was bedeutet dies für ihn und seine Zukunft? Die Diagnose BRCA oder eine andere genetische Diagnose, betrifft meist die ganze Familie. Das auszuhalten ist nicht immer leicht. Und dennoch war die Entscheidung für den Test, die für mich einzig richtige und ich habe sie für mich als große Chance verstanden.

„Über die Mutation zu wissen, bietet mir die Möglichkeit, dem Krebs im besten Fall einen entscheidenden Schritt voraus zu sein und für meine Gesundheit die bestmöglichen Entscheidungen treffen zu können. Ich glaube, man darf sich selbst Zeit geben. Zeit, um die Diagnose wirklich zu begreifen.”

Über die Mutation zu wissen, bietet mir die Möglichkeit, dem Krebs im besten Fall einen entscheidenden Schritt voraus zu sein und für meine Gesundheit die bestmöglichen Entscheidungen treffen zu können. Ich glaube, man darf sich selbst Zeit geben. Zeit, um die Diagnose wirklich zu begreifen. Um sich mit all den Konsequenzen vertraut zu machen. Und um herauszufinden, was sich für einen selbst richtig anfühlt. Es gibt keinen “richtigen” Weg im Umgang mit einer genetischen Belastung. Es gibt nur den eigenen. Und der darf auch von Ängsten, Zweifeln und Wut begleitet sein. Wichtig ist nur: Man muss da nicht allein durch. Gespräche mit Fachärztinnen und Fachärzten genetischer Beratung, aber auch mit anderen Betroffenen haben mir sehr geholfen. Offenheit kann entlasten. Nicht nur einen selbst, sondern auch die Menschen, die einen begleiten. Ich wünsche allen, die eine solche Diagnose erhalten, den Mut, Fragen zu stellen, Entscheidungen im eigenen Tempo zu treffen und gut auf sich selbst zu achten. Wissen kann Angst machen, aber es kann auch ein Schlüssel sein, die Kontrolle und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.

Das BRCA2-Gen spielt eine wichtige Rolle bei der Reparatur von DNA-Schäden in unseren Zellen. Hast du vorher schon davon gehört? Wie sieht so ein Test aus, wie läuft er ab?

Vor meiner Brustkrebsdiagnose hatte ich von diesem Gen nichts gewusst. Darauf aufmerksam wurde ich erst in einem Forum für an Brustkrebs erkrankte Frauen im Jahr nach meiner Diagnose. Um das Thema bin ich herumgeschlichen, ohne es richtig greifen zu können – in der stillen Hoffnung, nicht betroffen zu sein. Aber es gab eine Teilnehmerin, die sich nachdrücklich dafür einsetzte, dass gerade wir jung erkrankten Frauen uns testen lassen sollten. Also wurde ich aktiv. Auch wenn es aus meinem persönlichen Umfeld hieß, dass es dies nicht bräuchte. Ich habe mich damals an das Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs der Uniklinik Köln gewandt und meine familiäre Situation geschildert. Daraufhin wurde ich zu einem ersten Beratungsgespräch eingeladen. Bei diesem Termin wurde mir eine Blutprobe entnommen. Bei der Aufstellung ging man zunächst von einem eher geringen Risiko aus; so zumindest die Einschätzung aufgrund meiner Angaben. Dass fast alle Verwandten väterlicherseits an Krebs erkrankt waren und meist auch daran starben, erfuhr ich erst später. Mir wurde gesagt, ich müsse mich auf eine Wartezeit von etwa zehn Monaten einstellen, bis ein Ergebnis vorliegt.

Acht Monate später kam dann der Anruf, dass das Testergebnis vorliegt, und ich wurde zu einem weiteren Termin eingeladen. Eine junge Ärztin übermittelte mir das positive Testergebnis. Sie erklärte mir direkt, welche Schritte nun möglich und sinnvoll wären. Dazu gehören vorbeugende Operationen wie die Entfernung der Brüste oder der Eierstöcke und Eileiter. Ich entschied mich für eine sogenannte Ovarektomie, also die Entfernung der Eierstöcke und für eine engmaschige Brustkrebs-Früherkennung. Zusätzlich lasse ich seitdem regelmäßig ein Hautkrebsscreening und Magen-Darmspiegelungen durchführen. Eine BRCA-Mutation kann auf zwei Wegen festgestellt werden: Bei einem Bluttest – wie in meinem Fall – wird untersucht, ob eine sogenannte Keimbahnmutation vorliegt. Diese Art von Mutation ist vererbbar und befindet sich in allen Körperzellen. Alternativ kann das Tumorgewebe selbst untersucht werden. Wird dabei eine somatische BRCA-Mutation nachgewiesen, betrifft diese nur die Tumorzellen und ist nicht vererbbar. Dennoch ist auch dieser Befund wichtig, da er zielgerichtete Therapien ermöglichen kann.

Bild: © Jenny Klestil Photography

„Es braucht definitiv mehr Offenheit und Bewusstsein. In Familien, in der Gesellschaft, aber auch im medizinischen Alltag. BRCA und andere genetische Risiken betreffen nicht nur die einzelne Patientin, sondern meist ganze Familien. Deshalb sollte Aufklärung früh, verständlich und sensibel stattfinden und nicht erst nach einer Krebserkrankung.”

Was müsste sich im Bereich Aufklärung und Umgang damit deiner Meinung nach ändern?

Es braucht definitiv mehr Offenheit und Bewusstsein. In Familien, in der Gesellschaft, aber auch im medizinischen Alltag. BRCA und andere genetische Risiken betreffen nicht nur die einzelne Patientin, sondern meist ganze Familien. Deshalb sollte Aufklärung früh, verständlich und sensibel stattfinden und nicht erst nach einer Krebserkrankung. Zudem fehlt es vielen an Zugang zu genetischer Beratung oder gut aufbereiteten Informationen, die nicht verunsichern, sondern stärken. Es geht um Aufklärung, die nicht Angst macht, sondern Handlungsspielräume eröffnet, damit Betroffene informierte und selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Dazu braucht es auch einen offenen Umgang in Familien und den Mut Themen anzusprechen, die zu oft verschwiegen werden.

Wie haben sich die Diagnose der BRCA2-Mutation, aber auch die Brustkrebserkrankung auf dein tägliches Leben und deine Zukunftspläne ausgewirkt?

Mit der Diagnose BRCA wurde mir vom ersten Tag an bewusst, dass mich das Wissen um die Mutation und die Erkrankung Krebs, mein weiteres Leben begleiten wird. Aber es fühlt sich nicht mehr so erdrückend an wie in den ersten Jahren, was eine große, innere Erleichterung bedeutet. Und ich definiere mich nicht einzig und alleine über das BRCA-Gen oder die überstandene Krebserkrankung. Denn meine Persönlichkeit und mein Leben, machen doch so viel mehr aus. Letztlich war die BRCA-Diagnose nicht nur ein tiefer Einschnitt in mein Leben, sondern auch der Auslöser für mein Blogazin „Prinzessin uffm Bersch“. Ein Ort, an dem ich all das verarbeiten konnte, was für viele in meinem Umfeld kaum in Worte zu fassen war. Durch mein Schreiben fanden immer mehr Menschen mit einer Krebserkrankung, und auch ihre Angehörigen, den Weg zu mir. Weil ich Worte fand, die vielen in ihrer Situation fehlten. Dass mein „Geschreibsel“, wie ich es anfangs nannte, einmal so viel Resonanz und Verbindung schaffen würde, hätte ich nie gedacht. Und doch ist genau das passiert und es bedeutet mir mehr, als ich je erwartet hätte.

Gibt es etwas, was du von der Forschung erwartest, um die Situation für Menschen mit BRCA2-Mutationen zu verbessern?

Diese Frage möchte ich gerne losgelöst von meiner eigenen BRCA-Diagnose beantworten. Denn der Wunsch an die Forschung betrifft im Grunde alle, die mit einer Krebserkrankung leben. Ich wünsche mir, dass Krebserkrankungen künftig noch besser verstanden und damit gezielter behandelt werden können. Dass neue, innovative Therapien nicht nur entwickelt, sondern auch möglichst vielen Betroffenen zugänglich gemacht werden. Unabhängig von Wohnort, Alter oder finanziellen Rahmenbedingungen. Auch im palliativen Bereich braucht es Fortschritte, die Mut machen und Zuversicht schenken. Therapien, die nicht nur Lebenszeit schenken, sondern auch Lebensqualität. Forschung sollte nicht nur nach Heilung streben, sondern Wege ermöglichen, mit der Erkrankung gut leben zu können. Dazu braucht es informierte Patient:innen und eine starke Selbsthilfe.

„Ich habe auch gelernt: Aktivismus braucht Pausen. Und echte Fürsorge beginnt nicht mit dem Termin beim Arzt, sondern mit einem klaren Nein, wenn es mir zu viel wird. Ich gönne mir Rückzug, lasse auch mal die Stille sprechen.”

Du bist Mama eines Sohnes und setzt dich seit ein paar Jahren sehr aktiv für die Aufklärung zu Brustkrebs, BRCA1/2‑Mutation und Inklusion ein. Wie sieht dein Leben hier aus? Was machst du und wie sorgst du bei allem gut für dich?

Mein Alltag ist ein ziemlicher Spagat – zwischen Mamasein & Care-Arbeit, Aufklärungsarbeit, Selbstfürsorge und all den kleinen Dingen, die eben dazugehören, wenn man lebt, liebt und manchmal auch kämpft. Ich schreibe, spreche, vernetze mich, kläre auf – weil ich das Gefühl habe, dass daraus etwas Sinnstiftendes entsteht. Aber ich habe auch gelernt: Aktivismus braucht Pausen. Und echte Fürsorge beginnt nicht mit dem Termin beim Arzt, sondern mit einem klaren Nein, wenn es mir zu viel wird. Ich gönne mir Rückzug, lasse auch mal die Stille sprechen. Ein essenzieller Wesenszug, der mir als hochsensible Persönlichkeit sehr wichtig ist.

Was machst du im Bereich Selbsthilfe?

Ich bin keine „klassische Selbsthilfegruppenleiterin“. Mein Engagement lässt sich kaum in feste Bereiche einteilen, denn vieles greift ineinander und geht Hand in Hand. So organisiere ich in Aschaffenburg Treffen und Workshops für Frauen mit Brustkrebs, weil echte, authentische Begegnungen Halt geben. Ich unterstütze punktuell die Hospizgruppe Aschaffenburg oder engagiere mich als Patientenvertreterin in der Taskforce der AGO, wo ich dazu beitrage, komplexe Inhalte für betroffene Frauen verständlich und zugänglich zu machen. Ich bin mit vielen Menschen vernetzt, von denen manche Vereinen angehören, wie mamazone e.V., das Buusenkollektiv oder anderen Vereinen und Projekten rund um Krebs und Inklusion. Im Kern geht es immer darum, Menschen und ihre Stimmen sichtbar zu machen. Vernetzung ist für mich das Fundament, auf dem eine moderne Selbsthilfe aufbauen sollte…

Nicole Kultau ist Single-Mom eines Sohnes, der mit einer schweren Mehrfachbehinderung geboren wurde. Sie setzt sich seit vielen Jahren leidenschaftlich aktiv für die Aufklärung zu Brustkrebs, BRCA1/2‑Mutation und Inklusion ein. Sie gibt Biggi Welter von mamazone e.V. außerdem viele Impulse und Vernetzungsmöglichkieten an die Hand. Ratsuchenden Frauen und Familien gibt Nicole den Tipp, sich vertrauensvoll an das BRCA Netzwerk e.V. zu wenden.

Mehr zu ihr HIER und mehr Informationen zu Brustkrebs und der BRCA-Testung HIER.

Bild: © Nicole Kultau, Privat


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