Dr. Ha Vinh Tho ist honorierter Direktor des Zentrums für Bruttonationalglück in Bhutan, arbeitete ebenfalls in den Krisenregionen der Erde beim Internationalen Roten Kreuz, unterstützt viele Hilfsprojekte weltweit und ist außerdem Begründer und Leiter des Eurasia Learning Institutes for Happiness and Wellbeing. Er hat einige Bücher geschrieben, u.a. „Grundrecht auf Glück. Bhutans Vorbild für ein gelingendes Miteinander“ und fördert durch seine Projekte in Schulen, Organisationen und Firmen gesellschaftlich sowie persönlich die Entwicklung und Förderung von Glückskompetenzen der glücklichsten Nation der Welt.
Lieber Tho, du sagst, die Fähigkeit zum Glück ist erlernbar. Wie können wir denn das Glück lernen bzw. wie Glückskompetenzen durch das Bruttonationalglück erwerben? Welche inneren und äußeren Bedingungen oder auch Rahmenbedingungen gibt es dafür?
Zunächst einmal möchte ich auf die Bedingungen des Glücks zu sprechen kommen. Beim äußeren Glück des Bruttonationalglücks einerseits spricht man von vier Säulen. Die erste ist die ökologische Nachhaltigkeit, wozu ein sehr nachhaltiger Umgang mit der Natur und den Ressourcen genau so gehört, wie ein tieferes inneres „sich verbinden“ mit der Natur. Wenn Menschen von der Natur entfremdet sind, können sie sie ja gar nicht pflegen und sorgsam damit umgehen. Solange wir Ökologie aus egoistischen Gründen betreiben, ist das schlichtweg nicht genug. Man muss wirklich soweit kommen, das Recht anderer Wesensarten und der Natur zu schützen, und zwar nicht nur weil sie für uns nützlich sind, sondern sie auch ein Recht auf Wohlbefinden haben. Die zweite Säule ist dann die der Kultur. Unter Kultur verstehen wir Wissenschaft, Kunst aber auch Spiritualität. Hier geht es um Kreativität und die menschliche Fantasie, wodurch im Grunde Neues entstehen kann. Und dieses Feld muss frei und darf nicht der Wirtschaft untergeordnet sein. Die dritte Säule ist die der Wirtschaft, weil die selbstverständlich auch wichtig ist, aber sie sollte fair, die Verteilung gerecht und nachhaltig sein, also dass wir das nicht auf Kosten der kommenden Generationen machen. Und die vierte Säule ist eine gute Regierung. Darunter verstehen wir eine Regierung, die wirklich auf das Gemeinwohl zentriert ist und nicht die Vertretung von Sonderinteressen im Auge hat, was leider viel zu oft der Fall ist. Diese vier Säulen stellen als äußere Bedingungen des Glücks die Architektur einer gesunden Gesellschaft dar. Das macht bei der Erlernbarkeit des Glücks in einer Gesellschaft schon eine Menge aus.
„Aus der Forschung wissen wir, dass es eine Korrelation gibt zwischen Dankbarkeit, Freundlichkeit, Mitgefühl und Glück. Das sind alles Haltungen, die man bewusst pflegen kann, und die die Fähigkeit des Glücks erlernbarer machen.”
Und dann gibt es noch die inneren Bedingungen des Glücks, die einerseits mit Achtsamkeit, also der Schulung der Aufmerksamkeit, zu tun haben. Wir haben heute viele wissenschaftliche Forschungsresultate vorliegen, die aufzeigen, wie wichtig solche inneren Übungen für das innere Gleichgewicht sind – also die physische und psychische Gesundheit. Aber es sind auch die emotionalen Kompetenzen wichtig, also wie ich mit schwierigen Gefühlen und Emotionen umgehe, wenn ich beispielsweise traurig oder wütend bin. Wie kann man lernen, besser damit umzugehen, aber auch positive Emotionen bewusst zu pflegen. Aus der Forschung wissen wir, dass es eine Korrelation gibt zwischen Dankbarkeit, Freundlichkeit, Mitgefühl und Glück. Das sind alles Haltungen, die man bewusst pflegen kann, und die die Fähigkeit des Glücks erlernbarer machen. Dann gibt es aber auch noch die sozialen Kompetenzen wie Empathie, also die Emotionen anderer Menschen wahrzunehmen und sich darauf einzustellen. Aber auch die Fähigkeit, gute Beziehungen aufzubauen, die lange halten, und in denen sich die Menschen aufeinander verlassen können. Und dann gibt es noch den Punkt, verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können und wonach man sich dabei richtet. Wenn diese Balance stimmt und alle Aspekte zusammenkommen, hat man eine gute Basis für eine glückliche Gesellschaft.

Bild: © Privat
Warum sollte das Glück deiner Meinung nach Teil des Erziehungs- und Bildungssystems sein? Was wären erste Schritte? Und warum denkst du wird das nicht konsequenter umgesetzt?
Ich hatte eben schon über die Grundkompetenzen gesprochen, die wir in meinen Augen schon vom Kindergarten an lernen sollten, zu pflegen, und die sich über das ganze Leben ziehen. Meiner Meinung nach sollte das aber auch fest Teil der Schulbildung sein. Genauso wie akademische oder intellektuelle Fähigkeiten. Leider sind die Bildungssysteme grundsätzlich immer sehr schwer zu verändern, weil sehr viele verschiedene Kräfte mit am Werk sind. Das ist schon mal nicht einfach in der Ausgangslage! Der Staat, die Gewerkschaften und die Wirtschaft spielen alle mit, um nur mal drei Beispiele zu nennen. Alle wollen mitreden und in der Bildung meint jeder, Experte zu sein, weil er eben selber zur Schule gegangen ist (lacht). Jeder sagt: „Ich weiß genau, was man tun sollte!“. Es ist daher also schon mal grundsätzlich schwer, einen Konsens zu finden. Wenn man sich nun aber noch unser gegenwärtiges Bildungssystem genauer anschaut, fallen einem mehrere Probleme auf. Zunächst einmal stammt es aus einer anderen Zeit. Eine Zeit, die eigentlich schon vergangen ist, aber das System daraus hat sich erhalten. Ein Beispiel dafür ist das der Information. Ein großer Teil der Schulzeit besteht daraus, dass man Zugang zu Wissen und Informationen bekommt und lernt. Nun besteht das System aber aus einer Zeit, in der Information schwer zu bekommen und selten war, was in der heutigen Zeit überhaupt nicht mehr der Fall ist. Im Gegenteil. Man hatte nur diese paar Jahre Schulzeit zur Wissenserlangung und musste dann damit leben, was man aus der Zeit in der Schule mitgenommen hat. Heute hat jedes Kind mit seinem Smartphone Zugang zu allen Informationen, die es auf der Welt gibt. Eigentlich ist es nun viel mehr die Frage, wie man auf eine intelligente Weise und kritisch mit den Informationen umgeht.
„Jeder Mensch ist verschieden, wir sind alle unterschiedlich. Und man sollte viel mehr die Einzigartigkeit eines jeden Kindes unterstützen und nicht versuchen, alle gleich machen zu wollen. Und unsere Schule ist heute eben noch so konzipiert, dass alle 9‑, 12- und 15 Jährigen alle das Gleiche machen müssen.”
Und das Zweite ist, dass das Schulsystem noch auf das industrielle Zeitalter angepasst ist, wo Konformität noch maßgeblich war. Wenn man in einem industriellen Verfahren von Qualität spricht, heißt das, dass alles genau gleich ist. Das ist klar, für eine Maschine ist es so – aber nicht für einen Menschen! Jeder Mensch ist verschieden, wir sind alle unterschiedlich. Und man sollte viel mehr die Einzigartigkeit eines jeden Kindes unterstützen und nicht versuchen, alle gleich machen zu wollen. Und unsere Schule ist heute eben noch so konzipiert, dass alle 9‑, 12- und 15 Jährigen alle das Gleiche machen müssen. Egal wer sie und was ihre Stärken sind. Man versucht die Kinder anzupassen und das auf eine Gesellschaft, die es nicht mehr geben wird, wenn sie im Arbeitsmarkt angekommen sind. Ein Beispiel ist die künstliche Intelligenz, aber auch vieles mehr. Das bedeutet, dass wir mit einem Erziehungssystem von gestern nicht sehen, was es morgen braucht, und wie wir das entwickeln sollen. Eine Frage ist doch schon, was die Fähigkeiten überhaupt sind, die wir als Menschheit morgen brauchen?! Emotionale und soziale Kompetenz ist hier gefragt. In der Schule sollte viel mehr Kooperation und Teamwork vermittelt werden und im Zentrum stehen, aber leider ist das nicht die Realität. Jeder ist da für sich, versucht die beste Note zu bekommen und der Nachbar soll bloß nicht auf die eigene Arbeit schauen, damit er nicht auch eine gute Note bekommt und man selber der Beste sein kann. Und in der Arbeitswelt sollen sie dann auf einmal gut im Bereich Teamwork sein. Alleine kann man nichts schaffen, aber das hat man in den vielen Jahren der Schulzeit schließlich nicht gelernt! Ich bin der Meinung, dass es dringend an der Zeit ist, dass man das Bildungssystem reformiert und es eine Pädagogik des Erfolges und nicht des Scheiterns geben sollte. Also auf die Stärken der Kinder einzugehen, denn das sind ihre Besonderheiten.
„Du siehst, es gibt viele Ansätze, aber wenn wir uns alle im Klaren über das Ziel sind, nämlich dass das Ziel der Bildung Glück heißt, und dass sich Menschen entfalten können, kommen wir weiter. (…) Glückliche Menschen werden immer erfolgreich sein und nicht umgekehrt.”
Es sind nicht Kinder entweder in Deutsch oder Mathe gut oder schlecht. Es gibt noch Musik, Sport, Fremdsprachen, Zeichnen oder Malen und das ist schließlich alles ebenso wichtig. Wir müssen lernen, wie man die Stärken stärkt und die Einzigartigkeit eines jeden Kindes respektiert. Und dann sollte auch bedacht werden, wie man mit den entsprechenden biologischen Rhythmen umgeht, denn es ist physiologisch bei Teenagern beispielsweise so, dass sie spät einschlafen und spät aufwachen. Das heißt, sie müssen zu Zeiten in die Schule gehen, wo sie noch gar nicht fit sind. Du siehst, es gibt viele Ansätze, aber wenn wir uns alle im Klaren über das Ziel sind, nämlich dass das Ziel der Bildung Glück heißt, und dass sich Menschen entfalten können, kommen wir weiter. Denn glückliche Menschen werden immer erfolgreich sein und nicht umgekehrt. Wir suchen immer nach irgendeinem Erfolg, von dem man oft gar nicht weiß, was das eigentlich sein soll, wie beispielsweise reich zu werden oder einen bestimmten Titel zu haben, was nicht das Ausschlaggebende ist. Viel mehr wird ein Mensch, der glücklich ist, immer ein gutes Leben haben und immer erfolgreich in dem sein, was er tut. Da sollte man ansetzen.
Und dann beschäftigt mich noch etwas. Was können zum Beispiel die Deutschen als das viertstärkste Land aus wirtschaftlicher Perspektive von dem „Bruttonationalglück“ etc. lernen und warum sind wir häufig so unzufrieden und nur auf Platz 22 des World Happiness Reports? Wie entsteht aus deiner Sicht diese Diskrepanz?
Aus meiner Sicht ist es so, dass sich Deutschland Jahrzehnte lang auf den wirtschaftlichen und materiellen Fortschritt konzentriert hat, was man aus geschichtlicher Sicht durchaus verstehen kann. Das Land war schließlich zerstört und musste sich wieder aufbauen etc. Und dann kam auch noch die Wende, also Deutschland hat schon eine komplizierte Geschichte. Das ist schon mal das Eine und dann das Gewicht und die Bedeutung dessen. Das muss man mit einbeziehen. Diese traumatische Geschichte muss geheilt werden. Das Andere ist, dass es schlichtweg auch einfacher war, sich auf das Materielle zu konzentrieren. Das hat das Land wunderbar gemacht und ist so ja auch mit zur stärksten wirtschaftlichen Kraft in Europa geworden. Aber das eben auch auf Kosten anderer Bedürfnisse. Wir Menschen haben nicht nur materielle sondern auch seelische Bedürfnisse, wie emotionale und spirituelle. Und wenn zu viel Aufmerksamkeit auf die Wirtschaft und Materielles gelegt wird, kommen die anderen Bedürfnisse zu kurz. Und diese Diskrepanz zwischen einer starken Wirtschaft und Technologie usw. und den seelischen Bedürfnissen, wie ebene spirituelle oder emotionale, führt zu der Unzufriedenheit, die viele Deutsche verspüren. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass die Befriedigung aus dem emotionalen Bereich nie lange anhält. Wie beispielsweise bei einer Gehaltserhöhung. Am Anfang ist man noch sehr froh darüber, kauft sich ein neues Auto, geht auf Reisen und zwar nur noch 1. Klasse oder in 4 Sterne Hotels. Das ist zwar am Anfang toll, aber wenn man das 1. Jahr lang gemacht hat, ist es nichts Besonderes mehr. Es ist zum normalen Alltag geworden, aber wenn man es nicht mehr hat oder auch die Angst, es zu verlieren, dazukommt, ist man frustriert. Deswegen ist der hohe Lebensstandard der Deutschen keine Befriedigung mehr, weil es einfach das normale Leben darstellt. Haus, Essen, Job, Infrastruktur etc. Alles ist gut, aber wenn es droht wegzubrechen, oder nicht wie gewohnt klappt, wie bei verspäteten Zügen beispielsweise, ist der Frust groß. Wenn man etwas hat, was gut ist, ist es nie gut genug. Man kann aber nicht perfekt sein, das gibt es schlichtweg nicht. Und so lange man sich auf diese Seite konzentriert, wird man immer unzufrieden sein. Wir müssen uns fragen: “Wie viel ist genug?“ Das Streben nach „mehr und mehr und mehr“ ist das Rezept zum Unglücklichsein. Auch die Deutschen können somit noch viel vom Bruttonationalglück lernen und so bewusst etwas für ihr Glück tun.
Hier geht es zum ganzen Interview, das mit Dr. Ha Vinh Tho zum 1. Digitalen Glücksgipfel geführt wurde.

Außerdem schrieb Dr. Ha Vinh Tho ein inspirierendes Vortwort in Form einer kleinen Geschichte für das Buch: „Glück lernen: Kinderleicht happy sein für Groß und Klein. Innovatives Activity Book mit 35 kreativen und besinnlichen Übungen für das Wohlbefinden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.”
Die Übungen in dem Buch sind so gestaltet, dass sie allein oder gemeinsam mit anderen durchgeführt werden können, und sind mit kurzen Einleitungen und Erklärungen versehen, um Kindern die Bedeutung von Glück und die Wege dorthin auf einfache und verständliche Weise näherzubringen.
Mehr dazu HIER.
Bild: © Cover migo Verlag / Verlagsgruppe Oetinger
Der gesamte Beitrag ist in einer vorherigen Ausgabe des Magazins Pure & Positive erschienen.