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Angewandtes Mitgefühl…

Christin Prizelius | 27.03.24 | Interview mit Simran Kaur Wester — hier mit Marshall B. Rosenberg | © Simran Kaur Wester — Hamburger Institut für Gewaltfreie Kommunikation

Als Begründerin des Hamburger Instituts für Gewaltfreie Kommunikation und Mitbegründerin des Hamburger Vereins für Gewaltfreie Kommunikation e.V. ist Simran Kaur Wester eine der maßgeblichen Influencer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) im Norddeutschen Raum. Ihr Traum: eine Welt, in der die Bedürfnisse aller gleich ernst genommen werden, in der Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden und in der die Qualität von Beziehungen wichtiger ist, als “Recht zu haben”. Eine Welt, in der wir uns von unserer angeborenen Fähigkeit zum Mitgefühl leiten lassen. “Mich dafür einzusetzen, scheint mir die sinnvollste Weise zu sein, wie ich dazu beitragen kann.”, sagte sie.

Was genau ist die „Gewaltfreie Kommunikation“ und seit wann ist es als Konzept in Deutschland bekannt? Wie kommuniziert man „gewalt-frei“?

Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ist angewandtes Mitgefühl. Was dich angeht ist mir genauso wichtig wie das, was mich angeht. Ein schnurgerader Weg in den Frieden. Marshall B. Rosenberg, der Begründer der GFK, wurde 1986 von Isolde Teschner nach München eingeladen und reiste danach viele Jahre durch Europa und vor allem Deutschland, um seine Trainings und Seminare anzubieten. Er war stark durch Gandhi und Martin Luther King jr. inspiriert und hat die Idee der Gewaltfreiheit mit den bedürfnisorientierten Ansätzen von Carl Rogers kombiniert, bei dem er an der Uni in Madison/Wisconsin Humanistische Psychologie studiert und als klinischer Psychologe promoviert hatte. In Deutschland gibt es mittlerweile etwa 500 zertifizierte GFK-TrainerInnen und das Konzept hat in vielen Schulen, Kitas, Verbänden und Unternehmen Einzug gehalten.

Dr. Marshall B. Rosenberg war, wie Sie sagen, prägend für diesen Kommunikations- und Konfliktlösungsprozess, die sogenannte „Sprache des Lebens“. In welchen Bereichen wird damit gearbeitet? Wie sind da Ihre Erfahrungen als Trainerin? Und wie sind Sie dazu gekommen?

Gewaltfrei kommunizieren zu können ist natürlich nicht nur in bestimmten Bereichen hilfreich, es sorgt in allen Bereichen des Lebens für mehr Harmonie und Zufriedenheit, und zwar für alle Beteiligten. Besonders wichtig finde ich, dass Eltern und andere Menschen, die mit Kindern zu tun haben, lernen, mitfühlend und verantwortungsbereit zu kommunizieren, ohne Androhung von Strafen, ohne Belohnung oder Beschämung, offen und authentisch, weil Kinder in den ersten 10 Lebensjahren vor allem durch Nachahmung lernen. Es macht keinen Sinn, den Kindern die GFK nahezubringen, wenn die Lehrkräfte oder Eltern weiterhin mit Vorwürfen, Bewertungen und Erwartungsdruck arbeiten. Entsprechendes gilt für Angestellte und Führungspersonal.

“GFK führt zu einem Klima von Vertrauen und guter Zusammenarbeit, wenn die Bedürfnisse aller Beteiligten wahrgenommen und nach Möglichkeit berücksichtigt werden.”

GFK führt zu einem Klima von Vertrauen und guter Zusammenarbeit, wenn die Bedürfnisse aller Beteiligten wahrgenommen und nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Als meine Schwester mich in einer Situation, in der sie mich normalerweise kritisiert hätte, damit überraschte, dass sie – sichtlich bemüht, mir keine Vorwürfe zu machen — davon erzählte, wie schwierig die Situation für sie war und dass sie verstehen könne, dass mir da andere Sachen wichtig seien, konnte ich mich zum ersten Mal ihr gegenüber öffnen und wir konnten uns in die Arme nehmen. Es stellte sich dann heraus, dass sie einige Seminare bei Rosenberg mitgemacht hatte und entschlossen war, die GFK konsequent umzusetzen. Das hat mich neugierig gemacht, und so habe ich ebenfalls begonnen, mich auf die GFK einzulassen. Es hat mein Leben sehr bereichert, besonders die Beziehung zu meinem Mann und meinen Kindern.

Könnten Sie uns das „4‑Schritte-Modell der Gewaltfreien Kommunikation“ bitte etwas genauer erläutern? Was hat es mit der „Giraffen“- bzw. „Wolfssprache“ auf sich?

Die GFK macht die Haltung der Gewaltfreiheit und der Bedürfnisorientierung praktisch umsetzbar. Dazu hat Rosenberg das sogenannte 4‑Schritte-Modell entwickelt, das es erleichtert, in der Kommunikation den Fokus auf die vier Aspekte zu lenken, die jeder Aussage zugrunde liegen. Es ist in erster Linie ein Bewusstwerdungsprozess: was habe ich tatsächlich beobachtet und was schließe ich daraus, wie interpretiere und bewerte ich das? Wie geht es mir damit eigentlich, welche Gefühle tauchen auf? Womit haben diese Gefühle zu tun, worum geht es mir, welche meiner Bedürfnisse sind angesprochen? Und wie kann ich am wahrscheinlichsten und nachhaltigsten das bekommen, was ich brauche, wie könnte daher meine Bitte sinnvollerweise lauten? Diese vier Aspekte bieten eine Orientierung, um sowohl mich selbst als auch mein Gegenüber besser zu verstehen. Sie sind nicht als Handlungsanweisung gedacht, auch wenn sie zu Übungszwecken immer wieder bewusst angesprochen werden. Letztlich geht es um die innere Haltung: sehe ich mein Gegenüber als mir gleichwertig an oder stelle ich mich über oder unter sie oder ihn? Erkenne ich unsere gemeinsame Menschlichkeit an?

“Die andere Handpuppe war eine Giraffe, die für das stand, was ihm am Herzen lag: Mitgefühl, Akzeptanz, Gewaltfreiheit und Verbundenheit mit der lebendigen Kraft der Bedürfnisse in uns allen.”

Rosenberg hatte viel Spaß daran, anhand von Handpuppen zu verdeutlichen, worum es ihm ging. Er hatte einen Wolf – in den USA war es ein Schakal, in anderen Ländern auch eine Schlange – der die Art des Kommunizierens symbolisiert, die wir zur Genüge kennen: mit Kritik, Unterstellungen, Drohungen, Schuldzuweisungen usw. Die andere Handpuppe war eine Giraffe, die für das stand, was ihm am Herzen lag: Mitgefühl, Akzeptanz, Gewaltfreiheit und Verbundenheit mit der lebendigen Kraft der Bedürfnisse in uns allen. Weil diese Handpuppen natürlich plakativ sind und es erleichtern, das Konzept der GFK zu erfassen, ist oft von der „Wolfssprache“ bzw. „Giraffensprache“ die Rede. Das sind nach meinem Verständnis vor allem Werkzeuge, um die GFK zu erlernen, für die Haltung der GFK braucht man sie aber nicht – im Gegenteil, sie können zu einer neuen Art der „Richtig-Falsch“-Einteilung werden. Darum erwähne ich sie in meinen Kursen nur am Rande.

Foto: © Anja Escherich

Wie gelingen durch die GfK bessere Beziehungen und was kann man präventiv machen? Welche Impulse können gesellschaftlich im Großen eventuell auch gesetzt werden, damit wir alle in einem friedlicheren Umgang miteinander wären? Mit welchen positiven Gefühlen wäre das dann verbunden?

Die GFK hat mir geholfen, besser zu verstehen, worum es zum Beispiel meinen Kindern ging, wenn sie anders wollten, als ich: wo ich früher geglaubt hätte, sie seien unverantwortlich oder leichtsinnig, sah ich plötzlich, dass es ihnen vor allem um Selbstbestimmung und Vertrauen ging. Ich konnte auf sie zugehen und so etwas sagen wie: „Hast du das so gemacht, weil dir wichtig war, selbst zu entscheiden, was du machst? Weil du deine eigenen Erfahrungen machen möchtest und daraus lernen möchtest? Okay, das kann ich verstehen. Und gleichzeitig ist es so, dass ich es schwer habe, zu vertrauen, wenn ich nicht ausreichend informiert und gehört werde. Ich werde dann ganz nervös und mache mir lauter Sorgen. Könntest du dir vorstellen, mich in deine Pläne und Überlegungen einzuweihen und dir vielleicht anzuhören, was ich davon halte? Du sollst in jedem Fall selbst entscheiden, das ist mir wichtig, ich will nur, dass wir in Verbindung bleiben und umeinander wissen.“

Manchmal wird gesagt, die GFK zu lernen sei wie eine neue Sprache zu lernen. Das ist in gewisser Weise auch so, weil wir dabei unsere Kommunikationsgewohnheiten verändern und auch neues Vokabular lernen. Es lohnt sich, die Listen der Gefühle und vor allem der Bedürfnisse gründlich zu studieren. Zu verstehen, was es mit den Bedürfnissen auf sich hat, wie sie uns prägen und steuern, und wie sehr sie uns miteinander verbinden, weil alle Menschen dieselben Bedürfnisse haben und als Ausdruck der Bedürfnisse dieselben Gefühle, eröffnet eine ganz neue Sicht auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen. Und damit einher geht oft ein Wertewandel. Anstelle von Prestige und Leistungsdenken stehen mit einem Mal Authentizität und Kooperation. Mir ist durch die GFK bewusst geworden, dass ich für meine Reaktionen selbst verantwortlich bin, niemand kann mir Gefühle „machen“, sie haben mit meinen Bedürfnissen zu tun — und für die kann ich mich einsetzen. Ebenso bin ich nicht verpflichtet, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, das tue ich nur noch, wenn es meinem Bedürfnis entspricht, bereichernd beizutragen und andere wichtige Bedürfnisse wie Ausruhen oder Selbstbestimmung dabei nicht auf der Strecke bleiben.

“Wenn die Bedürfnisse aller Menschen ernst genommen werden, können Konflikte im Kleinen wie im Großen friedlich und nachhaltig gelöst werden.”

Wenn die Bedürfnisse aller Menschen ernst genommen werden, können Konflikte im Kleinen wie im Großen friedlich und nachhaltig gelöst werden. Anstelle von Abschottung und Ausbeutung stehen dann Kooperation und respektvolles Miteinander. Anstelle von Dominanz stehen Augenhöhe und Rücksichtname. Anstelle von Angriff und Verteidigung offene Aussprache und respektvolle Verhandlung. Das trüge enorm zur Entspannung und zur kreativen Lösungsfindung bei. Was für eine Erleichterung wäre es zu wissen, dass in der Politik und in der Wirtschaft diese Werte an erster Stelle stehen! Eine nachhaltige Veränderung unserer Gesellschaft hin zu mehr Menschlichkeit braucht beides: einen Wandel in der Bewusstheit über uns selbst und neue soziale, politische und wirtschaftliche Strukturen. Es macht mir Hoffnung zu sehen, wie viele Menschen in Deutschland mittlerweile die GFK kennen gelernt haben und anfangen, sie in ihrem Leben umzusetzen. Und es gibt unzählige verwandte Ansätze, die diesen Wandel ebenfalls beabsichtigen!

Wie nachhaltig kann dieses Modell für uns und unser Leben sein? Wie können wir sicherstellen, diese Form der Kommunikation fest in unser Leben zu integrieren?

Wenn wir anfangen, gewaltfrei zu kommunizieren, werden wir noch oft in alte Muster zurückfallen. Trotzdem machen schon die ersten zaghaften Versuche einen Unterschied: unser Gegenüber merkt, dass wir anders kommunizieren wollen, und allein das kann sie oder ihn bereits entspannen und empfänglicher machen für das, was wir eigentlich sagen wollen. Natürlich braucht es viel Übung und Dranbleiben, sonst nehmen die alten Gewohnheiten schnell wieder überhand. Es kann hilfreich sein, sich ein sogenanntes „Giraffentagebuch“ zuzulegen, in das wir zum Beispiel jeden Abend eine Situation, die wir im Laufe des Tages erlebt haben, mit Hilfe der vier Aspekte der GFK untersuchen, entweder nur bei uns selbst oder auch beim Gegenüber: was war der Auslöser, welche Gefühle sind aufgetaucht, welche Bedürfnisse waren betroffen, was hätte meine Bitte sein können? Dadurch erlangen wir eine Geläufigkeit mit unseren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen und schulen unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen.

Übrigens gehört ebenso dazu, zu feiern, wenn unsere Bedürfnisse erfüllt werden, durch uns selbst oder durch andere. Dann haben wir angenehme Gefühle wie Freude, Erleichterung, Dankbarkeit oder Hoffnung. Auslöser (Beobachtung), Gefühle und die dazu gehörenden Bedürfnisse aufzuschreiben, vertieft unsere Selbstwahrnehmung, sie mit anderen zu teilen schafft Verbindung und Nähe, weil die anderen Menschen ja wissen oder zumindest ahnen, wovon wir sprechen. Außerdem wirkt es ansteckend: über das zu sprechen, was uns bewegt und was uns am Herzen liegt, und dann zu bitten statt zu fordern, berührt unser Gegenüber und ermöglicht es ihr oder ihm, sich ebenso zu zeigen. (…) Was ich beobachte ist, dass Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum mit der GFK befassen, gelassener und selbstbewusster werden. Sie trauen sich zum Beispiel ihren Job zu wechseln, eine Aussprache mit dem Partner oder der Partnerin anzugehen oder sich für das einzusetzen, was ihnen wichtig ist, weil sie gemerkt haben, wie gut es tut, der eigenen Wahrheit und dem eigenen Herzen zu folgen. Und weil sie gelernt haben, ihre Anliegen auf eine Weise zu äußern, die andere nicht verletzt oder befremdet, sondern, im Gegenteil, Verständnis und Verbindung schafft.

Was wünschen Sie sich für diese „Bewegung“ für die Zukunft?

Die Zahl der Menschen, die sich auf die GFK einlassen, wächst seit Jahren rapide, jetzt wünsche ich mir Vernetzung und gemeinsame Initiativen. Ich wünsche uns allen Mut und Verantwortungsbereitschaft. Damit unsere gesellschaftlichen Strukturen so verändert werden, dass Ungerechtigkeit abgebaut, Frieden gefördert, umweltfreundlich und nachhaltig gewirtschaftet und eine enkeltaugliche Zukunft erschaffen wird.

Simran K. Wester ist Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation (CNVC) und bietet hierzu freie Seminare und Jahresgruppen an, zum Teil in Kombination mit Kundalini Yoga. Sie hat in den 90er und 00er Jahren viele Seminare bei Marshall B. Rosenberg besucht und zum Teil auch für ihn übersetzt.

Mehr Infos unter: www.higfk.de

Foto: © Simran Kaur Wester

Das ganze Interview erfolgte für eine vorherige Ausgabe des Magazins Pure & Positive.

Mehr zum Thema Gewaltfreie Kommunikation auch im Interview mit Lara Joy Körner hier auf dem Portal.


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