Heute jährt sich der Welt-MS-Tag bereits zum 15. Mal. Jedes Jahr am 30. Mai rückt diese chronische unheilbare Erkrankung in das öffentliche Bewusstsein. Weltweit sind 2,8 Millionen Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Thematisch passend zum heutigen Tag ist kürzlich das Buch „Mean Baby – Wie ich Selma Blair wurde. Ein Memoir“ im mvg Verlag erschienen. Darin gibt die Hollywoodschauspielerin Selma Blair, die u.a. für ihre Rolle in „Natürlich blond“ und „Eiskalte Engel“ bekannt ist, für ihre Lesung von „Anne Frank: The Diary of a Young Girl“ für eine Grammy-Auszeichnung für die beste Hörbuch‑, Erzählungs- und Storytelling-Aufnahme nominiert wurde und die in dem Dokumentarfilm „Introducing, Selma Blair“ sich selbst spielt, intime und ungeschminkte Einblicke in ihr Leben mit Multipler Sklerose — und macht dadurch Mut.
Mit freundlicher Genehmigung durch den mvg Verlag dürfen wir diese folgenden Auszüge nun als Leseprobe veröffentlichen. Vielen Dank für die Unterstützung – auch im Namen aller Betroffenen, Angehörigen und Interessierten.
„Seit meiner Kindheit litt ich unter Symptomen, die immer wiederkehrten. Fieber, Harnwegsinfektionen, Nervenschmerzen und Taubheitsgefühle, Depressionen. Symptome, die ich mit Alkohol zu betäuben versuchte, aber die Wirkung war nur vorübergehend. Symptome, die mit der Zeit nur noch stärker wurden. (…) Das MRT war mein neuer Wahrsager. Der Einzige, den ich brauchte. Es zeigte sich eine Reihe von mittelgroßen MS-bedingten Läsionen in meinem Gehirn, von denen sechs problematisch waren, weil sie aktiv waren. Kleine Feuer, die von Canyon zu Canyon auf den Synapsen brannten. Die Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinem Körper war demyelinisierend. (…) Jahrelang wurden meine Symptome als »Ängste« und »Emotionen« abgetan. Vielleicht bildete ich mir das alles nur im Kopf ein. Es sei psychosomatisch, hieß es. (….) Und jetzt hatte ich eine Strategie, der ich folgen konnte. Ich hatte Informationen. Ein Etikett. Dieses Mal eines, das passte. (…)
“In Worten liegt eine große Kraft. In einer Antwort. In einer Diagnose. Um einer Handlung Sinn zu geben, die man kaum noch nachvollziehen konnte.”
Die Diagnose Multiple Sklerose oder einer anderen chronischen Krankheit verändert das Leben. Selbst wenn man jahrelang mit den Symptomen gelebt hat, hat die Geschichte jetzt einen Namen. Sie hat ein Etikett. Es gibt Worte für deine Erfahrungen. (…) Die Zukunft, die man sich für sich selbst ausgemalt hat, beginnt radikal anders auszusehen. In einem Moment teilt sich das Leben in das Vorher und das Nachher. Dir wird klar, dass dieser Körper, den du so viele Jahre lang bewohnt hast –diese bizarre Ansammlung von Zellen‑, sich gegen dich gewendet hat. (…) Die größte Erkenntnis war, dass ich kein Opfer bin. Ich war fertig mit der Selbstsabotage. Jetzt war es an der Zeit, jede Ressource zu nutzen, die ich besaß. (…) Sie nannten mich eine Kriegerin. In diesem Moment fühlte ich mich nicht wie eine Kriegerin oder eine Heldin. Aber ich empfand ein neues Gefühl von Frieden und Sinnhaftigkeit. (…) Ich traf eine Entscheidung. Ich würde aufstehen und weitermachen. (…) Als bei mir MS diagnostiziert wurde, änderte sich mein Leben grundlegend. Ich wurde zu einer Art Botschafterin für die Krankheit. Genau wie Tyler Henry es vorausgesagt hat, bin ich eine Fürsprecherin für etwas, das mir wichtig ist. Obwohl ich nie gedacht hätte, dass ich diese Rolle einmal spielen würde, ist sie zu dem geworden, was ich bin. Die Gemeinschaft der Menschen, die ich gefunden habe und die mich gefunden haben, hat mich getröstet. Sie sehen mein wahres Ich und akzeptieren mich so, wie ich bin – schwach, verletzlich, gedemütigt, unselbstständig, frei, ehrlich, sensibel, ängstlich, hoffnungsvoll. (…)
„Ich suche in meiner Familie nach Anzeichen von Krankheit, nach Anzeichen von Traurigkeit. Ich schaue mir meine Geschichte an, um herauszufinden, woher meine Krankheiten kommen und ob sie besiegt werden können. Ich suche darin auch nach Anzeichen von Widerstandsfähigkeit, nach Beweisen für Stärke.“
Als ich die Diagnose MS erhielt, hatte ich mir gewünscht, dass andere Betroffene oft und offen darüber reden. Doch auch ich spreche jetzt nicht so oft über MS. Mir ist klar, dass ich nicht für andere sprechen kann, weil die Erfahrungen jedes Einzelnen so einzigartig sind. (…) Jeder, der lange genug an Multipler Sklerose erkrankt ist, würde sagen: „Aber bei dir wird es anders sein.“ Unsere Erfahrungen gehören nur uns selbst und ich werde nie das Ausmaß der Erfahrungen eines anderen kennen. Gleichzeitig halte ich es für wichtig, darüber zu sprechen. Wenn es um chronische Krankheiten geht, schämt man sich oft, seine Erfahrungen preiszugeben. Die Leute verurteilen dich. Die Leute glauben dir deine Symptome nicht. Sie behaupten, dass das alles nicht real ist. Glauben Sie mir: Das, was wir fühlen, ist real. (…) Das Leben mit MS ist nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Es ist gleichzeitig aber auch viel schlimmer. Meine besondere Erfahrung mit dieser Krankheit ist, dass sie jeden Zentimeter meines Körpers befallen hat, von der Kopfhaut bis zum Knochenmark. Wenn ich zu schnell aufstehe, falle ich hin. Wenn ich mit etwas konfrontiert werde, von dem ich nicht weiß, wie es ausgeht, kann ich nicht sprechen. Ich schwitze meine Kleidung durch, aber ich friere. Wenn ich meine Medikamente nicht nehme, kann ich meinen Körper nicht spüren. (…) Wenn ich einen Anfall habe, klinge ich wie ein wutentbranntes Kleinkind, das verzweifelt nach Luft ringt. Manchmal verschlucke ich mich beim Essen. (…) In gewisser Weise geht es mir erstaunlich gut. Ich könnte eine Stunde lang tanzen, wenn ich wollte! Aber am nächsten Tag bräuchte ich einen Stock, um mich fortzubewegen. Meine Krankheit ist auch schwer zu erfassen, weil sie sich ständig verändert. Meine Erfahrungen mit ihr ändern sich von Tag zu Tag, von Gespräch zu Gespräch. Sie bewegen sich auf einer weiten Skala zwischen gut und schlecht. (…)
„Ein fauler Mensch (und dazu zähle ich mich selbst) braucht manchmal einen Tiefpunkt, um seine Motivation zu finden.“
Ich habe nicht viel Energie, und es gibt Wochen, in denen ich fast den ganzen Tag schlafe. Das ist ein sehr typischer Aspekt von MS. (…) Ich verstehe, warum Menschen mit MS viel Zeit zu Hause verbringen. Das ist reine Selbsterhaltung. Diese kleinen Dinge, die uns passieren, summieren sich. (…) Als ich meine Diagnose bekannt gab, schien es für die Außenwelt so, als ob »es so schnell und so hart zuschlägt«. Aber sie hatten weder die ständige Müdigkeit noch die jahrlangen Entzündungen oder die Anzeichen gesehen, die sich die ganze Zeit über gezeigt hatten. Ich hatte es ein Leben lang gewusst. Das Einzige, was sich jetzt änderte, war, dass ich einen Namen dafür bekam. Ich habe mit so viel Selbsthass gelebt. Aber jetzt, wo ich weiß, womit ich gelebt habe – und zwar nach bestem Wissen seit mindestens 20 Jahren gelebt habe -, kann ich sanfter mit mir umgehen. Es gibt kein »“Warum ich?“« mehr. Es gibt nur noch mich. Dies ist ein Teil meiner Heilung. Ich lasse es ruhiger angehen. Ich versuche, der beste Mensch zu sein, der ich sein kann. Ich überlege mir kleine Lösungen, um zurechtzukommen. Ich finde Momente der Erleichterung und halte an ihnen fest.
„Trauer ist Liebe, die man nicht mehr ausdrücken kann.“
Letztlich weiß ich, dass ich nur noch einer von mehr als zwei Millionen Menschen auf der Welt bin, die MS haben. Aber ich hoffe, dass ich aufgrund meiner Bekanntheit etwas für andere tun kann, was Joan Didion für mich getan hat. Ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, das Stigma, das MS anhaftet, zu beseitigen, und die Öffentlichkeit für Menschen, die mit Behinderungen leben, zu sensibilisieren. Ich hoffe, dass ich Menschen, die mit chronischen Krankheiten – oder auch nur mit der schmerzhaften Erfahrung, ein Mensch zu sein – zurechtkommen müssen, dabei helfen kann, zu erkennen, dass sie nicht allein sind. (…) Eine weitere Erkenntnis, zu der ich jetzt, im Alter von 48 Jahren, während ich dieses Buch schreibe, gekommen bin, ist diese: Jeder Mensch auf dieser Erde braucht nur einen Menschen, der ihn sieht und für ihn eintritt, wahrhaftig und ehrlich. Einen einzigen Menschen. Das ist es, was wir alle brauchen, um durchzukommen. Je mehr, desto besser, aber einer reicht. Wegen meiner Krankheit sehe ich so viele Menschen. Und es gibt so viele Menschen, die mich sehen. Aber das war nicht immer so. (…)
„Es gibt immer einen Menschen, der uns unter die Haut geht, der unsere
Schwachstellen und Neurosen kennt und nicht anders kann, als uns diese
vorzuhalten. Das sind die Menschen, die uns am meisten verletzen können, weil es uns
so wichtig ist, was sie denken.“
Ich habe schon immer geforscht, seit ich ein kleines Mädchen war. Nachdem ich meine MS-Diagnose erhalten hatte, hatte ich die Chance, diese Neigung in die Tat umzusetzen. Mehr als alles andere war die Diagnose ein Weckruf. Wie kann ich weiterleben? Sie gab mir eine neue Perspektive. (…) Da die Diagnose während eines schweren Schubes gestellt wurde, konnte ich gleich mit einer Reihe von Behandlungen beginnen, um das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten. (…) Meine Schwester Katie war die Erste, die die hämatopoetische Stammzellentransplantation (HSZT) als mögliche Therapie zur Verlangsamung des Fortschreitens meiner Krankheit erwähnte. (…) Ich entschied mich, es durchzuziehen. Ich wusste, dass es extrem war, ein verzweifelter Versuch. Ich wusste, dass ich es vielleicht nicht überleben würde. Ich wusste, dass es keine Heilung war. Aber wenn diese Behandlung meine Lebensqualität verbessern und es mir ermöglichen würde, länger hier zu sein, für Arthur, dann war es mir das wert.
Die Behandlung würde buchstäblich das Leben aus mir heraussaugen. Alte Zellen würden entfernt werden. Neue Zellen aus meinem Körper würden hineingepumpt. Ich würde zwei Monate in Chicago verbringen, gefolgt von drei Wochen Isolation. Zuvor würde ich eine Chemotherapie benötigen. Sie war mit erheblichen, erschreckenden Risiken verbunden, aber auf der anderen Seite gab es auch Hoffnung. Ich hatte mir geschworen, mich auf Hoffnung zu konzentrieren. (…) Ich schloss meine Augen und wollte alles loslassen, was ich in mir trug. Den Schmerz loslassen. Und ein völlig neues Leben willkommen zu heißen. (…) In diesem Moment wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass die Stammzellenbehandlung funktionierte. Später bestätigten mir die Ärzte, dass ich in Remission war.
„Wenn ich mit MS neue Erfahrungen mache, erstarrt mein Körper. Jede neue
Blickrichtung kann eine Störung in meinem Gehirn verursachen. Demyelinisierung der
Nervenfasern. Ich kann den Boden nicht mehr finden. Ich kann nicht gut sprechen. Ich
sehne mich nach vertrautem Terrain. Routine…“
Wenn man ein Suchender ist, sucht man eigentlich nach jemandem, der die gleiche Sprache spricht. Man gibt die Hoffnung nie auf, eine echte Verbindung zu finden. (…) Es gibt immer eine klitzekleine Möglichkeit. In einer Welt voller Fälschungen findest du vielleicht einen echten Menschen, der dir die Antwort geben kann, die du gesucht hast. Vielleicht hörst du etwas, das dich endlich anspricht. Vielleicht stolperst du über die Wahrheit. Ich habe Folgendes gelernt: Man kann alles wahr werden lassen. Früher habe ich nach Antworten gesucht. Ich sehne mich nach einer Warnung, einer Wegbeschreibung, einer Gebrauchsanleitung, einem Geheimcode, um mich zusammenzuhalten. Ich suchte Schutz, vor allem vor mir selbst. Ich wollte die Erlaubnis, dass jemand anderes mich lieben darf. Aber das hier ist Neuland. In gewisser Weise hat mich die MS geheilt. (…)
Jeden Abend vor dem Schlafengehen gehe ich auf die Knie und bete. „Was kann ich tun?“, frage ich, „für mich, für meinen Sohn, für andere Menschen?“ (Mit zunehmendem Alter bin ich etwas pathetisch geworden.) Dann warte ich und horche auf die Antwort. Je älter ich werde, desto mehr erkenne ich, wie sehr die Dinge miteinander verbunden sind. Ich glaube, es muss etwas Größeres im Spiel sein, ich glaube, dass wir existieren, um eine Aufgabe oder ein Schicksal zu erfüllen. Anders kann ich mir die Liebe nicht erklären, die man für manche Menschen empfindet, oder unser angeborenes Bedürfnis nach Verbindung. Es macht es besser, wenn man glaubt, dass es Zeichen auf dem Weg gibt. Es fühlt sich kraftvoller an, wenn eine Botschaft durchkommt. Und wenn uns das noch Trost spendet, dann ist es umso besser.
“Ich möchte an Magie glauben, denn ich möchte denken können, dass es mehr gibt als geboren zu werden, zu lieben und zu sterben. Aber ich glaube auch, dass wir unser Schicksal selbst gestalten.”
Es gab Zeiten, in denen ich an Feenstaub glauben musste. Manchmal tue ich das immer noch. Ich möchte an Magie glauben, denn ich möchte denken können, dass es mehr gibt als geboren zu werden, zu lieben und zu sterben. Aber ich glaube auch, dass wir unser Schicksal selbst gestalten. Wir können uns zusammenreißen und eine stärkere Geschichte für uns erschaffen. Wir können sie schreiben. Das ist der wunderbare, realistische Teil der Magie. Ich kann nicht behaupten, dass ich die Geheimnisse des Universums verstehe. Ich weiß nur, dass ich Geschichten über alles liebe. Wir alle haben eine; ich trage meine in mir. Sie tragen Ihre in sich. Ich kann meine jetzt hören, mit meiner eigenen Stimme. Stark und klar. Ich musste nur aufhören, auf die Geschichten zu hören, die alle anderen über mich erzählten. Ich hoffe, das hilft auch Ihnen…“
An ihren Sohn schreibt sie zum Abschluss: „Ich erzähle die alten Geschichten, weil ich eine neue Art zu leben lerne, während wir unsere Zeit auf der Erde verbringen. Ich mache bestimmte Verhaltensmuster rückgängig. Ich ändere, was ich kann. Im Moment spare ich das Licht, das ich habe, um mit dir zu lachen. Um den ganzen Tag und die ganze Nacht mit dir zu fühlen. Ich werde so lange bei dir sein, wie du mich brauchst oder willst. (…) Ich hoffe, du wirst echte Freude erleben. Ich hoffe, du wirst Freundlichkeit jeder anderen Alternative vorziehen. Ich hoffe, du umgibst dich mit Menschen, die dich so sehen, wie du bist.
“Das ist das einzige Leben, das wir haben. Lass uns das Beste draus machen…“
Ich hoffe, dass du dich nicht gefangen fühlst, wie ich es tat. Dass du Menschen sehen wirst, die sonst für die Welt unsichtbar wären. Menschen, die gebrochen, einsam oder krank sind. Menschen, die jemanden brauchen, der sich für sie einsetzt. Danke, dass du jemand bist, der mich sieht. Ich möchte auch, dass du weißt, dass meine Krankheit keine Tragödie ist. Bitte vergiss das nicht. Solange ich hier bin, verspreche ich, so zu leben, dass ich für dich und für mich selbst ein Vorbild bin. Denn das ist es. Das einzige Leben, das wir haben. Lass uns das Beste draus machen…“
Quelle: „Selma Blair – Mean Baby – Wie ich Selma Blair wurde. Ein Memoir“ erschienen im mvg Verlag
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